Holub, Josef: Bonifaz und der Räuber Knapp
Seinen Weg finden ...
von Christoph Hobohm und Otto Brunken (1997)
Im März 1867 entscheidet das Cannstatter Waisengericht, „dass der Knabe Bonifaz Schroll seiner ledigen Tante Wilhelmine zu entziehen und mit sofortiger Wirkung seinem Oheim Emil Schroll, wohnhaft in Graab, zu verabfolgen“ sei. Damit beginnt die „beinahe wahre Geschichte“ des elfjährigen Bonifaz, der auf dem Wege zu seinem Bestimmungsort von einem gewissenlosen Fuhrmann mitten im tiefsten Schwarzwald abgesetzt wird. Er verirrt sich in der Dunkelheit und bricht schließlich, zitternd vor Kälte und Verzweiflung, ermüdet zusammen. Als er am nächsten Morgen in einer Dachkammer auf dem Schulzenhof seines Onkels aufwacht, kann er sich nur noch schemenhaft erinnern, wie ihn ein „großer Mann mit einem schwarzen Hut“ auf die Arme genommen und fortgetragen hat. Ein Geheimnis liegt über Bonifaz’ Rettung ...
Es fällt dem schüchternen und zarten Stadtbuben nicht leicht, sich an das raue Landleben zu gewöhnen. Sein strenger Onkel, eine wortkarge Amtsperson, lässt ihm erst einmal eine „Schafhammelfrisur“ verpassen, damit er nicht mehr gar so mädchenhaft aussieht. Die Dorfschule erlebt der bisherige Lateinschüler als eine verdummende Drillanstalt. Bevorzugtes Objekt der Prügelorgien des bornierten Schulmeisters Altmayer ist Christian Knapp, dessen Vater, der „große Mann mit dem schwarzen Hut“, für verschiedene Verbrechen in der Graaber Gegend verantwortlich gemacht wird. Das hindert Bonifaz nicht, Christians Stehvermögen, seinen Mut und seine Stärke zu bewundern: „Ich möchte so wie der Christian sein.“ Zwischen den beiden Außenseitern entwickelt sich – gegen das Verbot des Onkels – eine innige Freundschaft und durch Christian lüftet sich allmählich auch das Geheimnis um den Räuber Knapp: Aus schierer Not ist er, ein liebevoller und zärtlicher Vater, zum Hühner- und Wilddieb geworden, um Frau und Kinder zu ernähren. „Der war nie schlecht, und wer weiß, was man ihm alles anhängt oder andichtet. Wo er sich nicht wehren kann. Und jedes Kind weiß, dass der zahmste Ochs bös wird, wenn man ihn zu sehr in die Ecke drängt.“
Als die Ereignisse eskalieren – Knapp wird von der Ludwigsburger Garnison gejagt, seine Familie auseinander gerissen –, bringt der gerechtigkeitsliebende Bonifaz endlich die Courage auf, seinem Onkel entgegenzutreten. Unterstützung dafür findet er bei Friederike, der warmherzigen und mütterlichen Haushälterin. Die kann Grobheiten und Ungerechtigkeiten genauso wenig leiden wie Bonifaz und bestätigt so dessen Empfindungen. Mit ihrer Rückendeckung entwickelt er allmählich den Mut, auch dem Onkel gegenüber zu seinen Gefühlen zu stehen: „Schon lasse ich mich wieder von der harten Rede einschüchtern. Mein Herz fällt mir ganz tief in die Hose hinab. Fast bringe ich nichts mehr heraus. Nein! So feige will ich nicht mehr sein!“ Bonifaz’ Aussage über seine Beobachtungen entlastet den Räuber Knapp und der wahre Täter wird dingfest gemacht. Mit neuem Mut tritt Bonifaz auch Lehrer Altmayer entgegen und die Solidarität der Kinder vertreibt den bigotten Zuchtstockmeister aus dem Dorf.
Am Ende des Romans hat sich die alte Ordnung aufgelöst, neue Formen eines gerechteren und liebevolleren Zusammenlebens entwickeln sich. Zum knorrigen Onkel darf Bonifaz sogar ,Vater’ sagen. Doch seinen brüderlichen Freund verliert er: Die Knapps wandern nach Amerika aus.
Der als Ich-Erzählung geschriebene Kinderroman verbindet Elemente der Verbrechenserzählung mit Erzählstrukturen der Entwicklungsgeschichte. Holub sorgt dadurch zum einen für eine gehörige Portion Spannung. Diese wird noch dadurch erhöht, dass das anfangs schemenhafte Bild des Räubers nur ganz allmählich festere Konturen gewinnt und das Erkennen des Lesers immer an die Beobachtungen und Wirklichkeitsdeutungen von Bonifaz angebunden bleibt. Zum anderen schafft Holub auf diese Weise zahlreiche Identifikationsmomente, die umso stärker sind, als Bonifaz kein ,strahlender Held’ ist, dem alles auf Anhieb gelingt. Die stimmige Darstellung, wie er seine Ängste überwindet, lädt dazu ein, sich in die Person hineinzuversetzen und ein Stück Weges mit ihr zu gehen; sie gibt Mut, auf die eigene innere Stimme zu vertrauen und sich ungerechtem Handeln zu widersetzen. Die häufig detailrealistische Schilderung seiner Umwelt und des dörflichen Lebens im jahreszeitlichen Rhythmus von Frühjahr bis Herbst erleichtert es dem Leser, sich in Bonifaz einzufühlen. Zeitbezüge werden eher beiläufig hergestellt, etwa durch Verweise auf Mörikes berühmtes Frühlingsgedicht oder Jules Vernes Romane. Die bewusst altertümelnde Sprache – dem Buch ist ein kleines Glossar beigegeben – mag für ungeübtere Leser zunächst etwas sperrig sein, aber haben sie sich eingelesen, werden sie durch viel Sprachwitz und eine mitunter entlarvend-komische Figurensprache reich entschädigt. Dabei erzählt Holub mit so viel augenzwinkerndem Humor, dass es Lust macht, Bonifaz auf dem Weg in sein neues Leben zu begleiten.