Leseprobe „Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen“
Wirklich ein blöder Tag. Nach dem Frühstück gehe ich alleine hinauf und setze mich an meinen Tisch. Ich versuche, Tante Lau einen Brief zu schreiben. Es gelingt mir nicht, obwohl nur Renate im Zimmer ist. Oder gerade weil sie im Zimmer ist.
Allerdings schaut sie mich jetzt nicht mehr an, sie weicht mir aus, wie ich ihr ausweiche. Warum sagt sie nichts? Eigentlich müsste sie doch fragen, was ich habe. Aber ich bin froh, dass sie es nicht fragt, weil ich nämlich nicht wüsste, was ich antworten soll.
Wenn man auch schon Renate heißt! Renate ist ein blöder Name, er gefällt mir überhaupt nicht. In meiner ersten Schule in Deutschland war ein Mädchen in meiner Klasse, das Renate hieß. Sie war gemein und hinterhältig und hat immer am lautesten gelacht, wenn ich ein Wort falsch gesagt habe.
Warum ist mir das gestern Abend nicht eingefallen?
Ich packe mein Schreibzeug wieder in den Ranzen. Das Rechenheft mit dem angefangenen Brief brauche ich nicht großartig zu verstecken, mehr als die Überschrift steht sowieso nicht drin. „Liebe Tante Lou.“ Das kann jeder lesen.
Außerdem würde Renate nicht heimlich an meinen Ranzen gehen, mein Rechenheft herausnehmen und nachschauen, was ich auf das mittlere Blatt geschrieben habe. So etwas tut sie nicht, da bin ich mir ganz sicher. Und gemein und hinterhältig ist sie auch nicht.
Es ist mir nur alles so peinlich. Ich habe Sachen erzählt, die niemanden etwas angehen. Wie ein unwissendes Nichtheimkind habe ich mich angestellt, als hätte ich keine Ahnung vom richtigen Leben.