Leseprobe „Küss mich!“
„Die Falsche Blonde ist schlau“, sagte er. „Wenn wir das Geheimnisspiel spielen, erzählt sie jedes Mal dasselbe. Das ist bequem für sie. Ein Geheimnis zu verlieren ist besser als drei. Ihr blödes Geheimnis ist das meistgeteilte. Deshalb weiß ich, was du suchst.“
Lena starrte Wijting an. Er verschwand wieder hinter dem Hügel und kam mit einem großen dürren Ast zurück, den er hinter sich herschleppte. Die Gedanken schossen durch Lenas Kopf.
Das Geheimnis der Falschen Blonden ist das meistgeteilte. Geteilt mit Marit und mit Wijting, aber nicht mit mir! Nie mit mir. Nie gehöre ich dazu, Wicht, der ich bin, ein hässliches, plumpes, unförmiges Vollgewicht.
„Und warum ich nicht?“ sagte Lena. Sie krabbelte hoch und hielt sich an dem weißen Pfahl fest. „Warum wieder nicht ich? Ihr seid nicht meine Freunde.“
Wijting ließ den Ast neben seine Füße fallen. Er seufzte.
„Marit und ich sind schon deine Freunde. Die Blonde gehört nicht dazu, Lena, die Blonde gehört nicht dazu.“
„Und das soll ich glauben? Wenn ich dazu gehöre, warum weiß ich dann von nichts? Wieder mal?“
Wijting stieg über den Ast und kam zögernd auf Lena zu. Er streckte seine knochige Hand nach ihr aus, überlegte es sich aber und streichelte nur kurz über ihren nackten Arm.
„Das musst du dir merken“, sagte er. „Menschen sind nicht immer so, wie sie aussehen – das ist Nummer eins. Und Geheimnisse sind immer Geheimnisse. Egal, von wem. Das ist Nummer zwei. Große Geheimnisse sind dazu da, dass man über sie schweigt.“
„Das ist Nummer drei.“
(S. 32 f.)