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Wie kommt King Kong in den Schwarzwald?

von Lisa Röseler (2023)

Das Leben in einer Kleinstadt im Schwarzwald ist nicht gerade aufregend, jedenfalls nicht für den 16-jährigen Lenni, dessen Eltern ein Bestattungsunternehmen gehört. Zumindest freut er sich aber darauf, nach den Sommerferien zusammen mit seinem besten Freund Serkan an einem aktuellen Theaterstück zu arbeiten. Doch dann stellt ein neuer Schüler, Benjamin, die Freundschaft der beiden auf eine harte Probe und sprengt zudem fast die Theater-AG der Schule. Denn der Vorwurf des Rassismus steht plötzlich im Raum, weil ausgerechnet Serkan die Rolle des Affen im Musical „King Kong“ bekommt und Lenni sich in der von Benjamin aufgeworfenen Diskussion positionieren muss.

Kathrin Schrocke erzählt in ihrem aktuellen Roman eine mitreißende Geschichte über Alltagsrassismus, Liebe, Erwachsenwerden und den Tod. Dabei erweist es sich als kluger Schachzug, dass sie den sehr beliebten Lehrer Prasch in die Falle des Alltagsrassismus „tappen“ lässt und dass der Ich-Erzähler Lenni  zu Beginn der Auseinandersetzungen eigentlich gar keine eigene Meinung zu dem Thema hat und nur Benjamin – selber eine Person of Colour und der Neue in der Klasse – sich für Serkan einsetzt: So kann der Text die Leser*innen an der Entwicklung und dem Erkenntnisprozess von Lenni teilhaben lassen, ohne dabei belehrend zu wirken. Allerdings wird im Verlauf der Geschichte den Leser*innen an einigen Stellen doch der Spiegel vor Augen gehalten, indem kleine, anscheinend harmlose alltägliche Bemerkungen auf den Prüfstand gestellt werden und deren rassistischer Bodensatz verdeutlich wird. Gelungen ist zudem die Auflösung des Plots, wobei sich erst auf den letzten Seiten erschließt, wie es zu der skizzierten Ausgangssituation überhaupt kommen konnte.

Zusammenfassend kann man sagen, dass es sich bei „Weisse Tränen“ um eine kluge Geschichte voller Überraschungen handelt, die von einem gesellschaftlich relevanten Thema erzählt und dabei für Formen des Alltagsrassismus sensibilisiert. Der Roman trifft den Ton und die Sprache der Jugendlichen und widersteht aber der Versuchung, sich zu sehr der aktuellen Jugendsprache zu bedienen. Die Charaktere sind weder überzeichnet noch zu klischeehaft. Und als Bonus-Material gibt es im Anhang weiterführende Literatur zum Thema Rassismus und Anti-Rassismus sowie einige Podcast Empfehlungen.

Kathrin Schrocke hat bereits 2010 mit „Freakcity“ einen gelungenen Jugendroman verfasst, der sich mit der Welt der Gehörlosen beschäftigt und einige Preise erhalten hat.

 

Bibliographische Angaben:

Schrocke, Kathrin
Weisse Tränen
München: Mixtvision 2023
220 Seiten
Jugendbuch ab 12 Jahren

Leseprobe:
Ich raste über die Kreuzung, aber weder Serkan noch der Schulbus waren irgendwo zu sehen. Etwas außer Atem bog ich auf den Schulparkplatz ein und ergatterte einen der Rockstar-Parkplätze im Freien. Während ich hastig an meinem teuren Fahrradschloss drehte, ging mir folgendes Thema durch den Kopf: Ich war seit vier Monaten sechzehn. Aber die entscheidenden Entwicklungsschritte auf dem Weg zum erwachsenen Mann fehlten: Ich hatte noch keinen einzigen Rausch gehabt. Ich hatte nie heimlich das Auto meiner Eltern entführt, obwohl ich dank eines Youtube-Tutorials zumindest theoretisch wusste, wie man beim Überfahren einer roten Ampel eine erstklassige Vollbremsung machte. Ich hatte noch nie eine feste Freundin gehabt, weshalb ich mich vor Teneriffa sogar mit der Frage herumgequält hatte, ob ich in Wahrheit schwul sein könnte. Aber weder hatte ich jemals irgendwelche leidenschaftlichen Gefühle für meinen besten Freund Serkan gehabt, noch hatte ich Bock auf die Aktionen der LGBTQ-Gruppe an meiner Schule.
Happy war aus, ich tippte auf Repeat und ging hinüber zum Eingang. Unter dem Schriftzug „Kant-Gymnasium“ stand der schwärzeste Junge, den ich jemals gesehen hatte. Sein Outfit irritierte mich. Er steckte in einem gebügelten, weißen Hemd mit schicker, schmaler Krawatte. Bei jedem anderen hätte diese Aufmachung unpassend gewirkt. Aber der Typ trug dazu einen beeindruckenden Afro. Bestimmt war er ein begnadeter Tänzer. Für einen kurzen Moment überlegte ich, ob unser Rektor den Jungen für ein PR-Foto herbestellt hatte. Wir hatten im vergangenen Jahr das Label „Schule ohne Rassismus“ erhalten und Herr Regenmacher, genannt Rainmaker, ließ keine Gelegenheit aus, in den sozialen Medien zu feiern, dass wir alle voll woke waren und Ausländerfeindlichkeit bei uns keine Chance hatte.
„Hi“, sagte ich zu dem Neuen.
„Hi“, er lächelte verkrampft.

(S. 14/15)