Said (Text) und Moidi Kretschmann (Illustration): Clara
Nie mehr einsam
von Ulrike Grychta (2003)
Das Leben als ausgediente Vogelscheuche inmitten eines brachliegenden Feldes ist eine einsame Angelegenheit: „Hoffentlich spricht er mich bald an!“ ist deshalb Claras sehnlichster Wunsch, als sie einen Raben um ihren Acker stolzieren sieht. Als dieser tatsächlich näher kommt, bemüht Clara sich eifrig, eine Unterhaltung mit ihm zu beginnen. Und schon bald sind die beiden in ein Gespräch vertieft, „als ob sie sich schon lange kennen würden“: Der Rabe erzählt „ganz weltmännisch von der Mode und von der großen Welt“, die er schon gesehen hat, während Clara glückselig zuhört.
Aus Angst vor der Dunkelheit und obwohl „so etwas für eine Vogelscheuche eine Schande ist“, bittet Clara den Raben, diese eine Nacht bei ihr zu bleiben. Sie kann ihn schließlich überreden und so verbringen sie die Nacht zu zweit. Clara lauscht weiterhin zufrieden den Geschichten des Raben. Am nächsten Morgen hat dieser eine Idee, wie er Claras Angst für immer beenden kann: Er will ihr den Mond vom Himmel holen – wenigstens ein kleines Stück! Obwohl Clara ihm andeutet, dass ihr schon seine bloße Anwesenheit genüge, macht er sich auf den Weg, jedoch mit dem festen Versprechen, gegen Abend wieder da zu sein …
Moidi Kretschmann, für dieses Buch mit dem Wiener Illustrationspreis 2001 ausgezeichnet, überrascht durch ihren unkonventionellen Malstil – jedes einzelne Bild gleicht eher einem Gemälde als einer klassischen Bilderbuchillustration: So dienen die Bilder nicht - wie herkömmlich - der Nacherzählung der Geschichte, sondern dazu, Stimmungen widerzuspiegeln und zu vertiefen. Die Illustratorin trägt die Acrylfarben satt auf, schichtet und spachtelt mehrere Farben übereinander und kratzt Konturen hinein. Kurze Pinselstriche lassen die Landschaftsansichten stürmisch und herbstlich wirken. Die Figuren scheinen teils aus dem Bild hervorgehoben, teils in der Gesamtszenerie fast zu verschwinden, was eine starke Flächigkeit bewirkt.
Mit ihrem expressionistischen Malstil schafft es Kretschmann, die Stimmungen der beiden Figuren zu transportieren: Während aus Claras Haltung im Eingangsbild noch die Einsamkeit spricht, ändern sich ihre Mimik, Gestik und Körperhaltung im Laufe der Geschichte. Ebenso ist es beim Betrachten der Figur des Raben: Nicht nur dessen anfängliches Zögern und seine stolze Haltung sind klar erkennbar, sondern auch seine Verlegenheit und Ungläubigkeit in der Schlussszene.
Der mehrfach ausgezeichnete iranische Exil-Schriftsteller Said hat mit dieser dialogreichen Geschichte ein stimmungsvolles Märchen geschaffen, das auch den erwachsenen (Vor-)Leser zum Nachdenken über das richtige Maß an Distanz und Nähe anregt. Ein Buch über das Vertrauen fassen und Loslassen können.