Pohl, Peter: Nennen wir ihn Anna
Das Leben ist eine Hölle
von Christian Bittner (1999)
Dieser Satz – oftmals nur als Phrase dahergesagt – wird in Peter Pohls Jugendroman „Nennen wir ihn Anna“ zur bitteren Wahrheit. Ihren Anfang nimmt die Handlung in einem Ferienlager auf einer schwedischen Insel im Jahr 1958. Obwohl das Sommercamp unter dem Motto „Freiheit durch Verantwortung“ steht, ist die Atmosphäre von Konkurrenz und Gewalt geprägt. Dies bekommt besonders der 14-jährige Anders Roos, wegen seiner schmächtigen Figur und seines mädchenhaften Aussehens von seinen Budenmitbewohnern Anna genannt, vom ersten Tag an zu spüren. Hilflos ist er deren Terror ausgeliefert. Sein permanentes Lächeln ist nur eine Maske, hinter der er vergeblich Schutz sucht. Anna kann den Ansprüchen seiner Bude nicht gerecht werden und muss sowohl für seine eigenen als auch die Fehler der anderen büßen. Er wird Opfer von Gewalt, die bis an die Grenzen des Erträglichen geht: „Jetzt liegst du zusammengeklappt gegen den Boden gepresst und hast Tuvans ganzes Gewicht über dir, er koppelt seinen Schraubstockgriff noch fester um dein Rückgrat, in .dir knackt etwas, du erbrichst, und die Welt verschwindet.“
Die Jugendleiter reagieren unterschiedlich auf die brutalen Schikanen, doch niemand findet geeignete Maßnahmen. Für einen Teil von ihnen ist Gewalt ein legitimes Mittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen. Die anderen stehen der Gewaltbereitschaft der Jungen hilflos gegenüber. Der Leiter des Ferienlagers lehnt jede körperliche Sanktionierung grundsätzlich ab. Doch auch seine pädagogischen Gespräche mit den Jungen führen nicht zum Erfolg. Micke, der Sportleiter, beobachtet und reflektiert die Erziehungsmethoden der anderen Leiter. Er erkennt die Problematik und versucht, so gut es geht, der Gewalt vorzubeugen. Micke freundet sich mit Anna an. Aufgrund eigener Erfahrungen versteht er es, sich in Anna hineinzuversetzen und ihm seine Situation manchmal zu erleichtern. Doch letztlich bleibt Anna seinen sadistischen Mitbewohnern ausgeliefert.
Peter Pohl lässt Micke als Ich-Erzähler fungieren, der in einer fiktiven Anrede Anna seine Beobachtungen und Gedanken mitteilt. Mit seinem ,durchdringenden Blick’ schildert Micke seine eigenen Erlebnisse, an anderen Stellen berichtet er aus der Überschau auch von Ereignissen, an denen er nicht beteiligt ist. Gleichwohl wird auch in diesen Passagen die Erzählperspektive beibehalten. Durch diese raffinierte Erzähltechnik vermittelt das Buch eine große Nähe, es gibt keine Möglichkeit, sich vom Gelesenen zu distanzieren. Die klare und präzise (Jugend-)Sprache – das Buch wurde von Birgitta Kicherer übersetzt – unterstützt diese Nähe, ohne jedoch übertrieben und jargonhaft zu wirken.
Nach den Sommerferien bereitet sich Micke auf das Abitur vor, aber Annas Leben beschäftigt ihn mehr, als ihm recht ist. „Du bist so lieb, Micke! Du bist der einzige richtige Mensch auf der ganzen Welt!“ Und eben diese Einzigartigkeit macht Micke zu schaffen. Er fühlt sich überfordert, weiß nicht, wie er helfen kann.
Mehr und mehr bekommt Micke einen Einblick in Annas Leben: Morgens in der Schule wird dieser von seinen Mitschülern misshandelt, die Lehrer halten ihn für beschränkt und mitschuldig an seiner Situation, zu Hause wird ihm das Leben durch seinen tyrannischen Vater zur Hölle gemacht. Mickes Versuch, während einer Lehrerkonferenz auf die unerträgliche Situation Annas aufmerksam zu machen, scheitert an der Ignoranz der Lehrer. Denn: „In der vorbildlichen Schule des Rektors kommt kein Schülerterror vor.“
Immer häufiger geht Micke Anna aus dem Weg, versteckt sich hinter den Vorbereitungen für sein Abitur. Dennoch kommt er nicht zur Ruhe: „Deine [...] Vermutung, dass ich dir ausweiche, hat damit direkt zu tun – denn was halte ich für den Sinn des Lebens? Dass der Mensch dazu auf der Welt ist, dem, der Hilfe braucht, zu helfen. Das ist der Glaube, ja, aber so lebe ich nicht.“ Deshalb ist Micke erleichtert, als sich Annas Situation scheinbar in Wohlgefallen auflöst: Anna zieht mit seiner Mutter aus und entrinnt so dem tyrannischen Vater. „Jetzt bist du in Sicherheit. Und ich bin frei, frei, frei!“ Doch der Schein trügt: ... eine mangelhafte Arbeit ... eine weitere brutale Misshandlung durch die Mitschüler ... Micke erscheint nicht zu Besuch ... ein Streit mit der Mutter ... Anna erhängt sich im Garten. „Er sah so schön aus da im Sonnenschein. Aber er war tot.“
Peter Pohl schockiert mit diesem Buch. Die Erwachsenen schauen nicht nur weg, sondern unterstellen dem Opfer sogar eine gewisse Mitschuld: „Irgendwie muss es ja auch an Anna selbst liegen! [...] Er muss etwas an sich haben, was diese Impulse weckt.“ Micke durchschaut diese Strukturen. Doch konsequent etwas dagegen unternehmen kann er nicht. Zu schmerzhaft sind die Erinnerungen an die eigene Vergangenheit. Nach dem Selbstmord Annas muss er sich seine Fehler eingestehen. Nicht das bevorstehende Abitur, sondern der Umgang mit Annas Tod wird für Micke zur Reifeprüfung. Statt Anna Vertrauen und Verständnis entgegenzubringen, hat er – wie sein Umfeld auch – dessen Hilferufe ignoriert und darauf gehofft, dass sich alles von selbst erledigt. „Böses erzeugt noch mehr Böses. Die Welt wird nie besser werden!“ Micke hat resigniert.
Dem Autor wurde vorgeworfen, ein zu pessimistisches Bild der Realität zu zeigen, insbesondere die Schlussgestaltung gerate häufig zu trist. Dazu Pohl: „In der Wirklichkeit gibt es noch viel schlimmere Ereignisse als in meinen Büchern. Gemobbte Kinder sind froh, dass ich meine Geschichten nicht durch ein Happyend beschönige.“