Kordon, Klaus (Text) und Tilman Michalski (Illustration): Das ist Harry
Mädchenjunge
von Vera Unterbusch (1999)
„Richtige“ Jungen sind mutig, sportlich, lieben Fußball und raufen viel. – Der achtjährige Harry gehört nicht zu dieser Sorte. Er tanzt gern vor dem Radio oder spielt mit der Puppenstube seiner Freundin Ditte. Seine Umwelt hat dafür kein Verständnis. Tante Ida und Mutter suchen nach Erklärungen: Ist Harry vielleicht so, weil er ein Kriegskind ist? Fehlt ihm die männliche Bezugsperson, weil er vaterlos aufwächst? Harry selbst hält nichts von solchen Erklärungen. Er findet sich auch gar nicht komisch, nur eben anders! Zu schaffen machen ihm jedoch die Rollenerwartungen seiner Umwelt, die er weder erfüllen will noch kann. Harry geht seinen eigenen Weg. Er entdeckt, dass er in seinen Träumen so sein kann, wie er ist – oder, je nach Stimmung so, wie ihn die anderen gerne hätten. Häufig sitzt er in seiner Traumkammer und träumt von den alten, weisen Indianerfrauen aus seinem Lieblingsbuch. So malt er sich eine Welt aus, in der er die erlittenen Zurückweisungen kompensieren kann.
In Harrys Alltag ist die Imagination ein wichtiger Bestandteil. Er überwindet z. B. seine Fliegenangst, indem er den dicken Brummer aus der Speisekammer für seinen verstorbenen Großvater hält. Harry vertieft die Beziehung zu ,Opa Brummer’: Er spricht zu einem Foto des Großvaters. In vielen Episoden lässt Klaus Kordon den Leser an Harrys Entwicklung teilhaben. Wie schon in seiner Erzählung „Brüder wie Freunde“ siedelt er die Handlung in der Nachkriegszeit an, in der es ein „Mädchenjunge“ wie Harry besonders schwer hat. Dennoch findet die Geschichte eine positive Wende, als sich der introvertierte Junge öffnet. Er bezaubert seine Familie als „tanzender Weihnachtsengel“.
Als Harry schwer erkrankt, träumt er im Fieberwahn von den Indianerfrauen; dabei wird ihm etwas Entscheidendes klar: Er ist auch tapfer, wenn er so bleibt, wie er ist. Diese Erkenntnis aktiviert die Selbstheilungskräfte und er wird wieder gesund. Nach und nach hat sich Harrys Eigenwahrnehmung verändert und die Akzeptanz seiner Familie ist gestiegen. Klaus Kordon wendet sich in der einfühlsamen Geschichte zum Thema Jungenidentität einmal mehr gegen Rollenklischees und Vorurteile. Die realistischen Federzeichnungen von Tilman Michalski verstärken das Vergnügen mit diesem eigenwilligen Helden. Ein Buch, das Kindern Mut macht, zu sich selbst zu stehen.