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Günter, Mirijam:
Heim
München: dtv 2004
(dtv junior extra 70884)
304 S., € 7, 50

Günter, Mirijam: Heim

„Wir sind Heimkinder, asoziale Heimkinder ...“

von Elena Quack (2005)

Dreizehn Jahre alt ist die Ich-Erzählerin, als sie in ihrem neuen ‚Zuhause’, dem Falkenheim, mit den Worten begrüßt wird: „Du wirst sehen, du wirst dich hier wohlfühlen.” Doch bereits nach den ersten Minuten steht für sie fest: Hier wird sie nicht alt. Und so beginnen zwei turbulente Jahre, in denen das Mädchen in rasanter Geschwindigkeit zahlreiche Heime durchläuft. Schlägereien und Einbrüche, Konflikte mit Polizisten und Erziehern sowie Alkoholexzesse säumen ihren Weg; nicht alle ihrer Freunde überleben ihn.

Stolpernd gerät die namen- und scheinbar auch vergangenheitslose Erzählerin von einer Bredouille in die nächste. Wird sie dann zur Rechenschaft gezogen, so bleibt ihre Antwort stets dieselbe: „Ich habe nicht nachgedacht.” Und schon brechen neue Ereignisse über sie herein. Sei es die Verwicklung in eine Schlägerei, der Versuch eines Aus- oder Einbruchs oder gar der tragische Tod von Frank, der versehentlich an einer Überdosis gestohlener Tabletten stirbt. Zu schnell passiert einfach zuviel, als dass das da auch noch Zeit zum Nachdenken bliebe.

Einen Halt im Leben sucht die rastlose Protagonistin bei ihren Freunden: bei der altklugen Danny, Seitenscheitel-Andreas, dem schönen Tommy und dem verwegenen Alex. Für sie alle scheint es keinen rechten Platz auf der Welt zu geben. Immer wieder finden sie zusammen, klammern sich aneinander und bilden so eine Art Ersatzfamilie. Gemeinsam mit Internatsschüler und „Bonzenkind” Basti, der über die notwendigen finanziellen Mittel verfügt, gelingt es den Freunden schließlich, nach Spanien zu fliehen. Doch ist diese Flucht in eine vermeintlich bessere Welt nur von kurzer Dauer.

Am Ende hat sich Basti umgebracht, Alex hat eine Lehrstelle bekommen, und Danny, Tommy und Andreas haben ein Zuhause gefunden. Resigniert erkennt die Erzählerin, dass sie von nun an ihren Weg allein gehen wird. Denn für sie selbst endet alles dort, wo es begonnen hat, nämlich im Heim. „Ich war fünfzehn Jahre alt und hatte verdammt viel gesehen und das hier kam mir irgendwie bekannt vor.”

Mit ihrem Erstlingsroman gewährt Mirijam Günter ihren Lesern einen Einblick in die Welt der Heimkinder. Authentisch wirkt dabei die junge Protagonistin, die versucht, sich mit einer harten Schale vor dieser Welt zu schützen. So lässt sie niemanden an sich heran, gibt sich nach außen hin abgebrüht und frech und scheint weder willens noch fähig, sich anzupassen. Stets tut sie nur das, was sie für richtig hält. Und dass sie dabei mit ihren unbedachten Handlungsweisen immer wieder gegen Regeln und Normen verstößt, scheint sie nicht zu stören. Selbstreflexionen bleiben völlig aus.

Nur einige wenige Momente lassen den Leser ein anderes Ich dieses „schwer erziehbaren” Mädchens erahnen. Es sind Momente des Unbewussten, Momente der Regression – meist in Form von Tag- und Nachtträumen –, in denen sich Wünsche und Ängste der Protagonistin zeigen. Da offenbart sich beispielsweise in ihrem kindlichen Wunsch, gemeinsam mit ihren Freunden in einem großen Haus zu leben, die Angst vor dem Alleinsein ebenso wie der subtile Wunsch nach festen Bindungen – und auch der Wunsch nach Unabhängigkeit von all den Erwachsenen, die sie so oft enttäuscht haben und denen sie nun mit Misstrauen begegnet.

Diese wenigen Momente sind es auch, in denen dem Leser eine Innensicht geboten wird. Denn trotz Ich-Perspektive – die ja eigentlich gerade einen Einblick in das Innenleben des Erzählers, in seine Gedanken und Gefühle, Erinnerungen und Reflexionen, geben soll – verharrt die Erzählerin hier nahezu ausschließlich bei der Wiedergabe von Außensicht. Nur selten offenbart sie ihre intimen Gedanken und Gefühle, gibt weder ihre Geschichte noch ihre Herkunft preis und lässt den Leser im Unklaren über Ort und Zeit der Handlung. Es scheint, als spiegle diese ungewöhnliche, distanzschaffende Schreibweise den Abstand wider, den auch die Protagonistin aufrechtzuerhalten versucht.

Schonungslos und mit eindringlicher Direktheit zeigt Mirijam Günter, die eigene Heimerfahrungen machen musste, wie Jugendliche auch aufwachsen können. Dies tut sie, anders als in der Problemliteratur üblich, ohne moralische Instanz und ohne Appell. Doch entlarvt sie im Vorübergehen mit scharfem Blick hilflose Erzieher ebenso wie desinteressierte Lehrer und eine versagende Jugendhilfe.

Schlagfertige Dialoge, bissige Selbstironie und auflockernde Situationskomik entlasten den Leser bei der Lektüre der Geschichte dieses eigentlich intelligenten Mädchens, das seinem Schicksal doch immer wieder ohnmächtig gegenübersteht.

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