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Die äußere Reise als innere Reifung

Von Frank Münschke (2024)

Rob Reiners Film „Stand By Me – Das Geheimnis eines Sommers“ erzählt in sommerlichen Bildern die Geschichte einer Jungen-Freundschaft, die auch fast 40 Jahre nach dem Kinostart den Zuschauer*innen ein Lächeln ins Gesicht zaubert.

Der Film beginnt mit dem Bild des Schriftstellers Gordie Lachance, der mit seinem Auto auf einem Feldweg steht und durch einen Zeitungsbericht erfährt, dass der Rechtsanwalt Chris Chambers, Gordies bester Freund aus Kindheitstagen, in einem Restaurant erstochen wurde. Zwei jugendliche Fahrradfahrer fahren an Gordies Auto vorbei und die Binnenerzählung setzt ein: Der Film springt in Gordies Kindheit und in das Jahr 1959.

Die vier Jungen Gordie, Chris, Vern und Teddy leben in Castle Rock, einem kleinen Dorf im Nordosten der USA. Sie verbringen ihre Freizeit in einem Baumhaus, spielen Karten, rauchen ihre ersten Zigaretten. Zufällig erfahren sie, wo die Leiche ihres Mitschülers Ray Brower liegen soll. Dieser ist vom Beerensammeln nicht zurückgekehrt und wurde von einem Zug erfasst. Die Gruppe beschließt, sich auf die Suche nach Rays Leiche zu machen. Auf dem Weg dahin müssen sie mehrere Abenteuer bestehen: Sie fliehen vor dem (scheinbar) wilden Hund eines Schrottplatzbesitzers, überqueren eine Eisenbahnbrücke, schlafen nachts ohne Zelt im Wald, durchqueren einen Tümpel voller Blutegel. Am Ende der Binnenerzählung entdecken sie den toten Ray Brower. Als sie die Leiche wegtransportieren wollen, tritt eine Gruppe Halbstarker um den Anführer King auf. Mit einer Pistole kann Gordie die älteren Jungen vertreiben. Doch anstatt die Leiche mitzunehmen, entscheiden sich die vier schließlich für einen anonymen Hinweis per Telefon und kehren nach Castle Rock zurück.

Die Rahmenerzählung wird wiederaufgenommen und Gordie – mittlerweile selbst Vater eines präpubertierenden Jungen – schreibt die Geschichte des Sommers 1959 nieder.

„Stand By Me“ ist die Verfilmung von Stephen Kings Kurzgeschichte „The Body“ (aus der Kurzgeschichtensammlung „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“; die literarische Vorlage zu „Die Verurteilten“ stammt übrigens ebenso aus dem Band). King selbst sagte in einem Interview, dass er „Stand By Me“ für die beste Adaption einer seiner Texte halte. Und auch bei der breiten Masse steht Rob Reiners Film von 1986 hoch im Kurs: In der Internet Movie Database (imdb) landet der Film auf Platz 230 der beim Publikum beliebtesten Filme aller Zeiten (Stand: Juli 2024). Unter Filmkritikern gilt die King'sche Adaption ebenso als Klassiker – so wurde „Stand By Me“ etwa in die Liste der "1001 Movies you must see before you die" aufgenommen.

Die vier zwölfjährigen Hauptfiguren des Films könnten unterschiedlicher nicht sein: Chris (großartig: der leider viel zu früh verstorbene River Phoenix) ist der Anführer der Bande, selbstsicher, reflektiert und empathisch. Gordie (Wil Wheaton) ist zurückhaltend und klug. Der pummelige Vern (Jerry O'Donnell) ist naiv und ängstlich, Teddy (Corey Feldman) unruhig und exzentrisch. Trotz aller kindlicher Neckereien beweisen die vier einen enormen Zusammenhalt. Die heterogene Gruppe verbindet zudem das schwierige Verhältnis zu ihren Eltern, das an mehreren Stellen thematisiert wird – die Freundschaft ersetzt die Familie und gibt den Jungen Halt.

„Stand By Me“ wird konsequent aus Gordies Perspektive erzählt, es ist seine subjektive Sicht auf seine Kindheit, er fungiert innerhalb der Geschichte als Erzähler, seine Stimme aus dem Off führt die Zuschauer*innen durch die Handlung. Im Zentrum steht die Entwicklung Gordies vom Kind zum Jugendlichen – und seine Freundschaft zu Chris.

Die Binnenerzählung folgt der klassischen Struktur einer Abenteuergeschichte: Der jugendliche Held (Gordie) muss mithilfe eines Mentors (Chris) und seiner Gefährten (Teddy und Vern) mehrere Aufgaben überstehen, um an diesen zu wachsen. Zu Beginn sagt Chris zu Gordie: "Du bist einfach noch ein Kind", doch Gordie entwickelt sich im Laufe der Geschichte. Während er bei der ersten Prüfung noch schreiend vor dem Hund eines Schrottplatzbesitzers wegrennt, ist er es, der bei der zweiten Probe Vern vor einem heranrauschenden Zug rettet. Als die Jungen unfreiwillig in einen Tümpel voller Blutegel tauchen, setzt sich ein Wurm in Gordies Intimbereich fest. Er entfernt den Egel und seine Hände sind voller Blut. Gordie wird dadurch sinnbildlich zum Mann. Als Chris, Teddy und Vern anschließend überlegen, den Rückweg anzutreten, befiehlt Gordie, dass sie weitergehen. Er ist nun der Anführer der Gruppe, was auch durch den Einsatz von Untersichten visualisiert wird.

Am Ende lassen die vier Jungen die Leiche liegen und entscheiden sich stattdessen für einen anonymen Telefonanruf. Doch sie sind alle reifer geworden, Castle Rock kommt ihnen durch die zweitägige Wanderung nun viel kleiner vor. In der letzten Einstellung der Binnenerzählung stehen Chris und Gordie auf der Wiese vor ihrem Baumhaus und winken sich zu. Es ist ein Abschied von der Unbeschwertheit, der Abschied von ihrer Kindheit.

Nicht nur durch Gordies Voice Over wird deutlich, dass es sich um seine subjektive Erinnerung handelt, auch Rob Reiners Inszenierung unterstreicht diesen Blick: Die Sommerlandschaft in „Stand By Me“ wirkt fast schon surreal – der Himmel ist immer blau, alles blüht, die Vögel zwitschern. Davon ausgenommen sind die Rückblenden innerhalb der Binnenerzählung, in der Gordie den Tod seines Bruders (gespielt von John Cusack in einer seiner ersten Filmrollen) schildert und sein unterkühltes und schwieriges Verhältnis zu seinen Eltern thematisiert wird. Die Suche nach Ray Browers Leiche kann psychoanalytisch auch als Weg der Trauerbewältigung Gordies interpretiert werden.

In der Literaturwissenschaft spricht man von All-Age-Literatur, wenn sich literarische Texte sowohl an Kinder und Jugendliche als auch an Erwachsene richten, übertragen auf das Medium Film ist „Stand By Me“ ein All-Age-Film, denn der Film funktioniert auch für ein älteres Publikum – der erwachsene Gordie (gespielt von Richard Dreyfuss) fungiert hier als Schlüsselfigur. Ausgelöst durch den Tod seines Kindheitsfreundes fällt sein Blick zurück auf diese Zeit und mit ihm erhalten die erwachsenen Zuschauer*innen einen nostalgischen Blick auf die eigene Kindheit und Jugend, die trotz aller Härten und Schmerzen irgendwie reiner, unschuldiger und weniger von Grautönen durchsetzt wirkt.

Fazit .Der Film ist freigegeben ab sechs Jahren, ein Filmscreening ohne Erwachsene ist allerdings frühestens ab zehn Jahren zu empfehlen, da einige Themen des Films (Tod; Trauerbewältigung) gewisse Reflexionskompetenzen voraussetzen. Rob Reiners Film spielt in einer Zeit, in der es noch kein Internet und keine Smartphones gab, in der man in Baumhäusern saß, Karten spielte und fest davon überzeugt war, ein kleines Dorf sei die ganze Welt. „Stand By Me – Das Geheimnis eines Sommers“ ist ein Film über Abenteuer, Freundschaft, Identitätsfindung und Eskapismus, der den jugendlichen (und erwachsenen) Zuschauer*innen auch 40 Jahre nach seinem Kinostart ein wunderbares Filmerlebnis beschert.