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„Nachfragen über Judenkinder verboten.“

In Cornelia Franz‘ neuem Jugendroman „Goldene Steine“ halten sich die drei jungen Hauptfiguren zum Glück nicht daran…

Von Thomas Fischer (2024)

Es kommt selten vor, dass ein gestandener Bibliothekar bei einem Jugendbuch die Handlung mit heißen Ohren verfolgt, nicht mit dem Lesen aufhören kann und wichtige Aufgaben liegen lässt. Die Hamburger Erfolgsautorin Cornelia Franz hat es jedoch geschafft!

Ihr brandneuer Roman „Goldene Steine“ schickt drei Jugendliche auf eine spannende Reise durch die jüdische Vergangenheit ihrer Heimatstadt. Der fünfzehnjährige Leon, ein vernachlässigtes Wohlstandskind, wird aus heiterem Himmel auf dem Weg zum Sport zusammengeschlagen. Erst allmählich geht ihm auf, dass der Überfall mit dem ‚Käppi‘ zu tun haben muss, das er zuvor einem Mann vom Kopf gerissen und sich aus Spaß selbst aufgesetzt hat.

Bald darauf lernt er den etwa gleichaltrigen russischstämmigen Juden Nikolai und eine etwas jüngere Halbfranzösin namens Yara Delamare kennen, die sich für die Stolpersteine vor ihrem Wohnhaus interessiert. Von ihnen wird Leon darüber aufgeklärt, dass er einem gläubigen Juden die ‚Kippa‘ gestohlen hat und der Anschlag eigentlich Nikolai galt, dem einzigen jüdischen Jungen der Gegend.

Auf der Polizeiwache werden die Jugendlichen allerdings nicht ernst genommen, und so machen sie sich auf eigene Faust auf die keineswegs ungefährliche Suche nach den beiden Tätern. Dabei wächst das Trio zu einem so eingespielten Team heran, dass sie im Laufe der Zeit nicht nur die Neonazis dingfest machen können, sondern viel über das jüdische Leben in Deutschland lernen und dabei auch emotional reifen. Der Klassenclown Leon begreift, dass es hier und da Situationen gibt, bei denen Ernsthaftigkeit angebracht ist, der schüchterne Nikolai geht nun viel selbstbewusster mit seinen Mitmenschen um, und die energische Yara wird gewahr, dass Empathie – auch für Jungs – oft mehr bringt als Herumkommandieren.

Der in zeitgeschichtlichen Themen bewanderten, 1956 geborenen Cornelia Franz gelingt es, in den Dialogen der in der dritten Person im Präteritum erzählten Geschichte geschickt zahlreiche Sachinformationen unterzubringen. Dies könnte sie sich von der großen Mirjam Pressler abgeschaut haben, an deren letzten Roman „Dunkles Gold“ diese Erzählung sowohl inhaltlich als auch stilistisch anschließt. Hier wie dort macht sich eine Jugendliche auf die Suche nach der Geschichte des Judentums in ihrer Heimatstadt (in Presslers Roman ist es Erfurt), und beide Texte gewinnen an Tiefenschärfe durch Augenzeugenberichte älterer Menschen. Bei Cornelia Franz ist es die uralte Nachbarin Frau Winter, die der neugierigen Yara von ihrer elfjährigen Freundin Ella erzählt, die plötzlich, wie sechs weitere jüdische Kinder, aus ihrer Schulklasse verschwunden war. Nachfragen waren streng verboten. Später werden die einsetzende Demenz der alten Dame und ihr Tod sehr emotional (wenn auch nicht ganz kitschfrei) geschildert.

Kritisch anzumerken wären lediglich ein paar Holprigkeiten der Handlung: So tauchen etwa mehrfach Personen, die für den Fortgang der Story gebraucht werden, plötzlich an den unwahrscheinlichsten Orten auf, was die Verfasserin aber wiederum von den Figuren selbst plausibilisieren lässt: „Ein Riesenzufall, dass der uns gleich über den Weg läuft.“ Auch die Verschiebung der Handlung von Hamburg nach Frankfurt im letzten Drittel des Buches wirkt ein wenig unmotiviert. Vermutlich sollte die Schilderung eines dortigen Deportationsmahnmals unbedingt integriert werden. Verzeihen wir aber Cornelia Franz diese punktuelle deus-ex-machina-Attitüde und freuen uns über ein gelungenes Jugendbuch, das geeignet ist, den drohenden Untergang der Gutenberg-Galaxie noch ein wenig aufzuhalten.

Bibliographische Angaben:

Franz, Cornelia
Goldene Steine
Hamburg: Carlsen Verlag 2024
224 Seiten
Jugendbuch ab 12 Jahren

Leseprobe:

Leon und Nikolai kamen noch mit nach oben. Yara holte Sprudelwasser und eine Tüte Chips aus der Küche und sie machten es sich in ihrem Zimmer auf dem Teppich gemütlich, wie immer. „Eine halbe Stunde. Dann will ich dich auch noch ein bisschen für mich haben“, hatte ihre Mutter gesagt.
„Maman ist erst vorhin damit rausgerückt, dass sie übermorgen schon wieder zurückmuss“, erzählte Yara den Jungs. „Sie hat keinen Urlaub gekriegt und ist extra nur für meinen Geburtstag gekommen. Ich glaube, sie hat sich ziemlich erschrocken, weil ich allein nach Frankfurt gefahren bin.“
„Was heißt hier allein?“, meinte Leon. „Immerhin waren wir dabei.“
Yara hob gekonnt ihre linke Augenbraue. „Das hat sie kein bisschen beruhigt. Im Gegenteil.“ Sie knusperte an einem Paprikachip herum, als wäre der eine seltene Delikatesse. „Wisst ihr, was sie gesagt hat? Dass man unter vierzehn Jahren prinzipiell gar keinen Sex haben darf. Das war so unfassbar peinlich.“
„Sex? Wie kommt sie denn darauf?“ Nikolai wurde tatsächlich ein bisschen rot.
„Delamare!“ Leon riss empört die Augen auf. „Du hast deiner Mutter von unserer Nacht am Lagerfeuer erzählt? Das sollte unter uns bleiben.“
„Hä? Hab ich was verpasst?“ Nikolai schaute verwirrt von Leon zu Yara.
„Quatsch! Erzähl bloß keinen Scheiß, Leon. Mama meinte das total theoretisch, von wegen Jugendschutzgesetz. Gucken da eure Eltern nicht drauf?“
„Nöö“, brummelte Leon.
„Das würde mir gerade noch fehlen. Meine Mutter hat sowieso schon lauter Regeln im Kopf“, sagte Nikolai. „Bevor wir an die Ostsee gefahren sind, hat sie mir mindestens dreimal eingeschärft, erst eine Stunde nach dem Essen schwimmen zu gehen.“
„Altes jüdisches Gesetz?“, witzelte Leon.
„Klar, uralt. Stammt noch aus der Wüste, du Kamel!“ (S. 211 f.)