Tuckermann, Anja: Mano. Der Junge, der nicht wusste, wo er war
Verloren in einem fremden Land
von Mareike Huuk (2009)
„wir müssen aus dem Lager rausmarschieren das Marschieren hört gar nicht mehr auf an jedem Tag zwanzig Kilometer und nichts zu essen wir stecken uns Schnee in den Mund rechts und links SS mit Hunden wer zurückbleibt wer fällt und nicht wieder aufkommt auf den stößt die Nachhut drei SS mit Waffen und Hund dann hören wir den Schuss alle die nicht mehr mithalten können werden erschossen oder wer zu langsam wird“
Beklemmend sind die Erinnerungen des elfjährigen Sintojungen Mano an den Todesmarsch, auf den er 1945 mit weiteren Insassen des Konzentrationslagers Sachsenhausen geschickt wird. Der Krieg scheint verloren, und von Tag zu Tag werden es weniger deutsche Soldaten, die den Todesmarsch bewachen. Mit letzter Kraft ergreifen Mano und seine Cousins eines Nachts die Möglichkeit und fliehen. Doch Mano ist zu schwach, um seinen Vettern zu Fuß nach München, nach Hause zu folgen. Befreite französische Kriegsgefangene nehmen den vor Erschöpfung kranken Jungen auf einem Traktor mit in die französische Zone und geben ihn dort als französischen Juden aus: „Du bist nicht deutsch, du bist jetzt Franzose! Du hast die Sprache vergessen, du hast alles vergessen! Du weißt nur noch deinen Namen und dein Alter.“
Ab jetzt ist Mano ‚Franzose’, und wieder befindet er sich in einer Situation, aus der er keinen Ausweg sieht, fürchtet er doch, als „sale boche“, als ‚dreckiger Deutscher’ erkannt und erneut inhaftiert zu werden: „Ich habe eine große Angst. Ich war gefangen für das, was ich bin. Und hier bin ich wieder falsch.“ Und man kann sterben, „wenn man falsch ist“. Angetrieben von den im KZ verinnerlichten Überlebensmechanismen, befolgt er die Anweisungen und versucht nicht aufzufallen. Nur seinen Namen und sein Alter gibt er preis – mehr nicht.
Mano kommt nach Paris, wo sich gutmeinende Leute seiner annehmen und alles daransetzen, mehr über das Schicksal des Jungen mit der tätowierten Nummer zu erfahren und noch lebende Verwandte ausfindig zu machen. Dass Mano sein Wissen um seine Herkunft und seine Familie beharrlich verschweigt, macht die Suche nicht einfacher. Er lernt die fremde Sprache, geht zur Schule, findet Freunde, versucht sich anzupassen und hat manchmal schon einen nahezu normalen Alltag. Doch Mano ist durch die Gefangenschaft schwer traumatisiert, er hat Albträume und Angstzustände. Auch die Zuneigung der Personen, die sich liebevoll um ihn kümmern, kann ihn nicht aus seiner seelischen Starre befreien. In einem Kinderheim für Kriegswaisen und in der Kinderpsychiatrie versucht man, seiner Probleme Herr zu werden, doch neue schockierende Erfahrungen, die Mano dort machen muss und die ihn wieder und wieder an seine Zeit im KZ erinnern, verstärken nur noch seine Angst.
Immer wiederkehrende Bilder verleiten ihn zu der Annahme, dass keiner aus seiner Familie noch lebt, und stürzen ihn in einen Zwiespalt zwischen Trauer und Ungewissheit. Was geschieht, wenn er irgendwann doch als Deutscher erkannt wird, was passiert, wenn er sagt, dass er alles noch weiß, und was wäre, wenn seine Eltern doch überlebt hätten? Da er sich keinem anvertrauen kann, drückt der Junge seine Zweifel durch Gewalt und Aggressionen aus. Schon Kleinigkeiten können ihn dazu bringen, die Kontrolle über sich zu verlieren, und keiner weiß, warum. Nur in der Natur und im Umgang mit Tieren kann Mano sich von seiner Anspannung lösen und seinen Gefühlen freien Lauf lassen. In diesen wenigen Momenten scheint er seine Sorgen kurz zu vergessen, seine Vergangenheit zu verdrängen und sich mit seinem neuen Leben zu arrangieren.
Anja Tuckermann lernte Mano Höllenreiner bei ihren Recherchen zu ihrem Buch „Denk nicht, wir bleiben hier! – Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner“ (München: Hanser 2005) kennen, das 2006 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte Sachbuch ausgezeichnet wurde. Die Geschichte Manos fand Anja Tuckermann so berührend, dass sie sich entschloss, diese in einem dokumentarischen „Roman nach einer wahren Begebenheit“ zu erzählen.
Ihr Erzähltext wird durch typographisch abgesetzte innere Monologe und Bewusstseinsströme des Jungen unterbrochen; sie offenbaren Manos Gefühle und seine innere Zerrissenheit, und immer wieder wird er in diesen Gedanken von der Erinnerung an Ereignisse aus der Gefangenschaft eingeholt. Das Lesen dieser Passagen ist mitunter schwer erträglich, so schockierend und zugleich berührend sind sie.
Diese stark emotionalisierende Schreibweise wird durch dokumentarische Techniken einerseits unterstützt, andererseits abgefedert und gebrochen. 22 Seiten Fotografien, die dem eigentlichen Text vor- und nachgestellt sind und Manos Aufwachsen in München, seine Zeit in Frankreich und die Rückkehr nach Deutschland bildlich veranschaulichen, bestärken die Vorstellungskraft des Lesers und unterstützen die Empathie zum Protagonisten. Eine ähnliche Funktion erfüllen die handlungsunterbrechenden Erfahrungsberichte der Personen, die Mano in dieser Zeit begleiteten und die seinen Charakter und ihre Erfahrungen mit dem Jungen aus einer persönlichen Perspektive beschreiben. Weitere, die Handlung des Romans unterbrechende Originaldokumente objektivieren die Geschichte, bauen Distanz zum Geschehen auf, verweisen den Leser auf eine Außenperspektive und belegen das Bemühen um die Aufklärung von Manos Herkunft bzw. umgekehrt die elterliche Suche nach Mano. Erst durch diese Unterlagen erfährt der Leser, dass die Eltern des Jungen noch leben und ihrerseits nach ihm suchen. So kann der Leser mit Spannung verfolgen, ob bzw. wie es zur Zusammenführung der auseinandergerissenen Familie Höllenreiner kommt. Die Autorin versorgt den Leser in gekonnten, zunächst abwartenden, dann sich immer mehr beschleunigenden Schritten fortgehend mit neuen Informationen über den Verlauf der Suche. Die Dokumente selbst wirken zuerst unpassend und fügen sich fast nicht in die Erzählung ein, doch am Schluss verdrängen die Schreiben fast gänzlich die Erzählung und berichten, dass Mano nach eineinhalb Jahren in Frankreich wieder mit seiner Familie zusammengeführt werden konnte.
Eindrucksvoll und erschütternd gut wird in „Mano – Der Junge, der nicht wusste, wo er war“ von einem Leben erzählt, welches dem Leser einen Schauer über den Rücken laufen lässt. Ein beeindruckendes Buch, das eine bewegende Geschichte dokumentiert und auch literarisch in jeder Hinsicht überzeugt.