Röder, Marlene: Zebraland
Jugend jenseits von Gut und Böse?
von Daniela Anna Frickel (2009)
Zufällige Begegnungen sind oft die entscheidenden. So zeigt es zumindest der Roman „Zebraland“ der jungen Autorin Marlene Röder, in dem das Ende der Kindheit durch einen solchen Zufall eingeläutet wird: Ziggy hätte mit seinem Faible für Reggae und seinen Rastas vermutlich nie Kontakt mit Jenny, Phil und Anouk aufgenommen, wäre auf dem Musikfestival nicht alles schief gelaufen. So nimmt er ihr Angebot an, gemeinsam mit ihnen nach Hause zu fahren. Anouk sitzt am Steuer, und die anderen dösen vor sich hin, als es plötzlich knallt. Sie haben Zebra – eine türkische Mitschülerin, die auf ihrem Moped unterwegs war – angefahren. Zebra liegt scheinbar leblos im Straßengraben. Was nun? Sollen sie die Polizei verständigen oder flüchten? Sie entscheiden sich für Letzteres, womit die Geschichte eigentlich erst beginnt.
Der Unfallhergang wird im Roman nicht rekonstruiert. Es ist sogar denkbar, dass der Unfall von Zebra selbst herbeigeführt wurde, damit ihr Bruder, der ihre Beziehung zu einem deutschen Jungen nicht toleriert, sie auf dem Gewissen hat. Für den Leser ist allerdings klar: Die Fahrerflucht, die durch unterlassenen Hilfeleistung erst zu Zebras Tod geführt hat, grenzt an Mord. Die Akteure des Romans müssen ihre Schuld und ihren Umgang damit erst noch verhandeln. Jenny plädiert für Aufrichtigkeit, ihr Gegenspieler Phil – in Rechtsfragen vermeintlich bewandert – kalkuliert utilitaristisch die Vor- und Nachteile einer Selbstanzeige und kommt zu dem Schluss: Zebra wird dadurch auch nicht mehr lebendig.
Lebendig ist Zebra von da ab aber in Ziggys Träumen. Und noch etwas verhindert das Verdrängen und Vergessen: Ein vermeintlicher Mitwisser, der sich Moses nennt, fordert in geheimnisvollen Briefen von jedem der (Mit-)Täter Sühne in Form eines großen persönlichen Opfers. Der Verkehrsunfall bildet so nur noch den Anlass, vor dem sich das moralische Profil der vier Figuren in ihren Beziehungen zueinander und zur Welt herausbildet bzw. transparent wird. Hier wird aus einem Jugendbuch über ein tragisches Ereignis und die Frage nach dem Umgang mit Schuld ein Psychokrimi mit denkbar überraschender Auflösung.
Marlene Röder ist mit diesem Roman ein erzähltechnisches Glanzstück gelungen. Die flüssig und spannend erzählte Geschichte wird dem Leser aus den Perspektiven zweier Ich-Erzähler dargeboten: In Rückblenden beichtet Ziggy das Geschehene seinem Cousin; Jenny schildert und kommentiert die aktuellen Ereignisse in einer Art innerem Zwiegespräch. Der Wechsel zwischen Präteritum und Präsens verstärkt den Spannungsaufbau, der außerdem durch zahlreiche zukunftsungewisse Vorausdeutungen und das zyklische Eintreffen der Erpresserbriefe intensiviert wird.
Die eingeblendeten surrealen Traumsequenzen Ziggys bieten dem Leser Hinweise zur Entschlüsselung der Symbolik dieses vielschichtigen Romans, der zahlreiche Anspielungen auf die biblische Apokalypse beinhaltet. Die tote Zebra wird hierin ebenso lebendig, wie durch die sukzessive Einblendung ihrer Tagebucheinträge. Sie deuten an, dass Zebra nicht nur Opfer eines Verkehrsunfalls, Opfer eigennützig und unchristlich handelnder Jugendlicher ist, sondern auch Opfer des aggressiven Traditionalismus ihrer türkischen Familie.
Dennoch ist „Zebraland“ weniger ein Opfer- als ein Täterroman, denn hier wird das Opfer auf ein die Handlung auslösendes Motiv reduziert. So rücken die Täter in den Blick, für die der Roman nur eine Diagnose, keine Therapie bereithält: Ein Fünkchen Moral findet sich noch in jedem der vier Jugendlichen, aber fehlende Entschlusskraft und Eigeninteressen verhindern Aufrichtigkeit, humanistische Menschlichkeit. Vielleicht macht auch dies die Qualität dieses Romans aus – dass man als Leserin ein öffentliches Eingeständnis der Schuld vermisst.