Steiner, Jörg (Text) und Jörg Müller (Illustration): Was wollt ihr machen, wenn der Schwarze Mann kommt?
Wer hat Angst vor’m schwarzen Mann?
von Katja Graber und Ruth Schlößer (1998)
Viele kennen sicherlich die erfolgreichen Schweizer Autoren Jörg Müller und Jörg Steiner von früheren Werken wie „Die Kanincheninsel“ oder „Die Menschen im Meer“. Ihre bisherigen gemeinsamen Bücher wurden fast alle international prämiert. So bekam „Aufstand der Tiere oder Die neuen Stadtmusikanten“ 1990 den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte Bilderbuch. In diesem Jahr haben sie mit „Was wollt ihr machen, wenn der Schwarze Mann kommt?“ ihr siebtes gemeinsames Bilderbuch veröffentlicht.
Ihr neuestes Werk benennen die Autoren nicht von ungefähr nach einem altbekannten Kinderspiel, denn damit fängt alles an. Die Kinder spielen zunächst das alte Spiel, doch dann ändern sie die Regeln: „Von jetzt an behaupten sie, der Schwarze Mann sei wirklich gekommen.“ Bald darauf finden sich Fußabdrücke auf dem Reiterdenkmal und schwarze Luftballons darüber. Niemand hat Erklärungen dafür. „Niemand weiß, wie es dem Schwarzen Mann gelingt, ganz heimlich Bastelsachen in eine Apotheke zu schmuggeln: Windrädchen zum Beispiel, oder ein aus Zeitungspapier gefaltetes Schiff.“ Der Schwarze Mann versetzt eine ganze Stadt in Angst und Schrecken. „Um sich vor dem Eindringling zu schützen“, werden überall Schlösser und Gitter angebracht. Doch die Polizisten, Politiker und Professoren sind erfolglos: Trotz Videokameras und Überwachungsraum – „den Schwarzen Mann sieht man nicht“. Wer ist der Schwarze Mann? Ist es der Mann mit dem Hut, der auf vielen Bildern zu sehen ist? Oder sind es möglicherweise mehrere ,Täter’? Panik und Hysterie brechen aus. Erst nachdem schon lange keine Spuren mehr vom Schwarzen Mann aufgetreten sind, kehrt wieder eine Art von Normalität ein, aber „die Angst ist noch da: die Angst vor allem Fremden und Unbekannten. Die Videokameras, die Warnlampen, die Alarmanlagen, die Gitter und Eisentore bleiben, wo sie sind.“
„Was wollt ihr machen, wenn der Schwarze Mann kommt?“ ist ein spannender Rätselkrimi. Es finden sich viele Indizien, anhand derer ein aufmerksamer Betrachter dem Schwarzen Mann auf die Schliche kommen kann. Zugleich ist das Bilderbuch jedoch eine Parabel auf eine Welt, in der kein Platz mehr ist für Kreativität, kindlichen Übermut, Spaß und Spiel. Stattdessen regieren Misstrauen und Vorurteile. Aus Angst vor Fremdem grenzen sich die Erwachsenen selber ein, hinter Stacheldraht und Überwachungssystemen. Wie schnell Unsicherheit in totalitäres Gebaren umschlagen kann und Freiheitsrechte eingeschränkt werden können, zeigt uns das Buch in Bild und Text. Bittere Ironie ist allseits unterschwellig spürbar. So heißt es z. B. von der Angst der Erwachsenen: „Einige meinen, man dürfe nicht immer alles gleich so schwarz sehen.“
Durch die Illustrationen von Jörg Müller wirkt das Buch realistisch. Er hat in einigen Bildern seine Heimatstadt Biel mit ihren Einkaufsstraßen zur Vorlage genommen. Mit großer Detailtreue zeigt uns der Künstler – z. B. durch das Übermalen von Fotos – die Stadt mit Häuserfassaden, Geschäften, grauen Betonklötzen und knalligen Werbeplakaten, in der Kinder fast fehl am Platz wirken. Auffällig ist der Kontrast zwischen großen Flächen in tristem Grau und Braun und grellen Farben, die stark hervorleuchten. Die über dem Geschehen liegende unheimliche Atmosphäre wird durch enge Gassen, dunkle Passagen, einen düsteren Himmel erzeugt. Seine Bilder sind, so Müller, „wie mit dem Pinsel geschrieben“ und enthalten eine Fülle von Informationen. Aufgrund dessen findet man auch bei mehrmaligem Lesen immer wieder etwas Neues, Aufschlussreiches oder Witziges, das sich den noch so aufmerksamen Augen bisher entzogen hat.
Das Spiel mit Einstellungsgrößen und Perspektiven erlaubt ungewöhnliche Einblicke. Der Bilderbuchbetrachter fühlt sich teilweise wie ein stiller Beobachter – ähnlich wie der immer wieder auftauchende Mann mit dem Hut. Störend wirken allerdings die ,Gebilde’, die ab und zu im Seitenknick durch ungeschicktes Zusammenfügen entstanden sind, so wird z. B. eine Fernsehkamera mit dem Heck eines Autos verbunden.
Bemerkenswert ist die Doppelseite, auf der Realität und Traum miteinander kombiniert werden: Links ist aus der Vogelperspektive eine platt gewalzte Straße zu sehen, auf der sich die Menschen an vergitterten Fenstern unter Polizeiaufsicht entlang schleichen. Die auffällig leere, hellgraue Fläche der Straße sticht hervor. Sie findet sich auf der rechten Seite – farb- und formähnlich – als Himmel über einer dunklen Straße wieder, aus der viele schattenhafte Gestalten aufbrechen und an Häuserwänden emporklettern.
Der Schluss des Buches ist offen gehalten und stimmt nachdenklich. Die Kinder spielen immer noch ihr Spiel: „Was wollt ihr machen, wenn der Schwarze Mann kommt? ,Ausfliegen', rufen sie und heben die Arme wie Vögel, die sich gleich in die Lüfte schwingen und vom Wind davongetragen werden.“ Dazu ein Bild von Müller, in dem die Kinder tatsächlich an sich vom Boden erhebende Vögel erinnern, die sich wie die schwebenden Blätter in der Luft schwerelos fortbewegen. Aber man sieht sie hinter einem übermächtig großen Stacheldrahtzaun. – Der neue Müller/Steiner ist ein ungewöhnliches Bilderbuch, das zum Entdecken und zum Diskutieren anregt. Hoffentlich kommen ihm viele junge und alte LeserInnen auf die Spur!