Gelberg, Hans-Joachim (Hrsg.): Oder die Entdeckung der Welt
Wer die Welt entdecken will, muss sie lesen
von Anja Segschneider und Bettina Hurrelmann (1998)
„Nie habe ich aufgehört, an die Kraft der Literatur zu glauben“, so Hans-Joachim Gelberg Ende des letzten Jahres in einem Rückblick auf seine Zeit als Chef des Verlags Beltz & Gelberg, mit dem er sich von den AutorInnen, FreundInnen und KennerInnen des Programms verabschiedete. Am Anfang seiner Tätigkeit stand das erste Jahrbuch der Kinderliteratur, „Geh und spiel mit dem Riesen“, von 1971. Gelberg zeigte, was Kinder- und Jugendliteratur vermag, wenn man sie als poetische Form achtet und ernst nimmt.
„Oder die Entdeckung der Welt“ von 1997, das zehnte Jahrbuch, ist nicht nur eine Art ,summa’ des Herausgebers in diesem Sinne, sondern eröffnet zugleich den Blick auf Zukunft: Jede Generation beansprucht für sich, die Welt neu zu entdecken – welches Medium aber wäre dazu besser geeignet als die Poesie? „Meine Landkarte Seekarte entspricht // nicht den wirklichen Längen und Breiten // Entferntes // Liegt nah beieinander“ (Marie Luise Kaschnitz). Dieses Motto – auf dem Titelblatt unter der Abbildung eines ,Eihauses’, das über einer Landschaft schwebt – verweist auf die Fantasie als das wichtigste Wahrnehmungsorgan nicht nur der Kinder, sondern aller Menschen.
Die Anthologie schickt die Lesenden auf Entdeckungsfahrt: Die Reise, die 157 bekannte und weniger bekannte AutorInnen und KünstlerInnen mit ihren Texten, Bildergeschichten und Illustrationen ermöglicht haben, beginnt mit den fliegenden roten Fischen von Jutta Bücker auf dem Einband, setzt sich fort über fünf Kapitel, die in Texten und Bildern eher spielerisch als systematisch zusammengestellt sind: „Zur Welt kommen“, „Wolkenkratzen“, „Von den Wünschen“, „Du lieber Himmel“, „Rätsel und Geheimnisse“. Sie endet mit einem Zitat aus „Alice im Wunderland“: „,Mache den Anfang mit dem Anfang’, sagte der König ernst, ,und lies weiter, bis du ans Ende kommst; dort höre auf.’“ Das ist natürlich pure Ironie, denn das Jahrbuch ist eine Fundgrube von kleinen und großen Schätzen, die man nicht im Lesen des Buches von vorn bis hinten, sondern im Stöbern und Schmökern hier und dort entdeckt. „Oder die Entdeckung der Welt“ ist ein Hausbuch für die Unterhaltung von Erwachsenen und Kindern, eine Schatztruhe für alle Altersgruppen.
Unterschiedlichste Gattungen stehen nebeneinander: Kindergedichte, Kurzgeschichten, Bildergeschichten und auch Informationsartikel, z. B. über Karl Valentin, Henry David Thoreau und Emily Dickinson. Der Schwerpunkt der Sammlung liegt jedoch auf den poetischen Ausdrucksformen. Der Sinn der Kinder für alles Kräftige, Überraschende, Skurrile bestimmt den Ton. Fantastik und verspielter Nonsens stehen im Vordergrund. Nach diesem Prinzip sind auch die Illustrationen ausgewählt. Im Laufe seiner Tätigkeit sei ihm immer deutlicher bewusst geworden, „welche Magie Kinderliteratur entwickelt, wenn sie der Literatur eine ebenbürtige Bilderwelt ermöglicht“, sagt Gelberg. So ist dieses Jahrbuch nicht nur eine Lesefundgrube, sondern auch ein Augenschmaus. Lehrern, Eltern und Kindern sei es zur eigenen Entdeckungsfahrt empfohlen!