Sammelrezension „Vom Horror der heilen Welt – Negative Utopien in Jugendbüchern“
Lowry, Lois: Hüter der Erinnerung
Vom Horror der heilen Welt
von Ute Hentschel (1998)
Was wünschen sich Kinder und Jugendliche, wenn sie die Welt mit einem Schlag verändern könnten? Dass ihre Eltern sich nie mehr streiten? Dass sie einen passenden Job bekommen, wenn sie erwachsen sind? Dass es keinen Hunger mehr auf der Welt gibt, keine Umweltverschmutzung, keine Kriege? Und wäre das nicht unser aller größter Wunsch: Frieden auf Erden und Wohlstand für alle ...?
Die mehrfach ausgezeichnete amerikanische Autorin Lois Lowry stellt uns in ihrem Buch Hüter der Erinnerung genau so eine Welt vor. Sie entwirft in einem fantastischen Gedankenspiel eine Gesellschaftsform in ferner Zukunft. Alles ist perfekt organisiert, alle Bürgerinnen und Bürger sind von sämtlichen Sorgen und Ängsten befreit. Ihnen ist die Verantwortung für ihr Leben abgenommen worden – von einem wohlmeinenden „Komitee der Ältesten“, das nach jeweils langen Beratungen bestimmt, welche Paare heiraten und welchen Kinder zugewiesen werden, das die Berufe verteilt und auch das Lebensende eines jeden bestimmt. Dies alles geschieht unter Beachtung der unumstößlichen „Regeln“, die von allen Bewohnern ohne Zwang akzeptiert und befolgt werden. Es ist das Zeitalter der „Gleichheit“: In einer klassenlosen „Gemeinschaft“ ist alles und jedes auf ein vernünftiges Gleichmaß zurechtgestutzt. Hunger, Armut und Krankheit gibt es ebenso wenig wie offene Gewalt. Die Menschen leiden nicht, sie sind gleichförmig zufrieden.
Aus der Sicht des 12-jährigen Jonas wird ein Jahr im Leben der „Gemeinschaft“ geschildert, und je weiter wir seinen Erlebnissen in der Geschichte folgen, desto mehr entdecken wir den Horror in dieser heilen Welt. Jonas ist auserwählt, der nächste „Hüter der Erinnerung“ zu werden: Er soll all die Dinge im Gedächtnis bewahren, die die Menschen vor langer Zeit aufgegeben und verdrängt haben. So erfährt Jonas, was Wut und Schmerzen sind, was Krankheit und Tod bedeuten. Aber ebenso erfährt er die positiven Seiten tiefer Gefühle: Liebe, Geborgenheit und Glück. Er lernt Farben zu sehen und er weiß jetzt, dass mit den Stürmen und dem Regen auch der Sonnenschein verschwunden ist. Jonas erkennt, dass der Preis für die Sicherheit und Perfektheit der „Gemeinschaft“ zu hoch ist: Er flieht unter Lebensgefahr in eine ungewisse, aber auch menschlichere Gesellschaft.
Lois Lowry ist ein glaubwürdiger und spannender Zukunftsentwurf gelungen, der bis zur letzten Seite fesselt und ganz ohne Technik-Schnickschnack auskommt. Sprachlich kunstvoll beschreibt sie die neue Welt ohne eine allwissende Erzählinstanz, nur durch Handlungen und Dialoge der Figuren. So wirkt die Gestaltung der zukünftigen Gesellschaft weder aufgesetzt noch konstruiert.
Weniger gelungen ist Unemotion – Roman über die Zukunft der Gefühle von Leonardo Wild. Thematisch ähnlich, versucht das Buch eine Welt darzustellen, in der die Bewohner genormte und kontrollierbare Gefühle zeigen müssen, wollen sie überleben. Titel und Cover versprechen eine interessante Geschichte; dem werden Handlungsführung, Personenzeichnung und sprachliche Gestaltung leider nicht gerecht. Ein Wirrwarr von Motiven (Krimihandlung, Weltraumroman, Liebesgeschichte, Politintrige), willkürliche Zitate aus SF-Klassikern, eine Vielzahl blutleerer, unsympathischer Figuren ohne Identifikationsanreiz für die jugendlichen Lesenden, Dialoge, die jeder Soap Opera alle Ehre machen würden. Weniger wäre mehr gewesen.
Dies gilt in anderer Hinsicht auch für den Titel Schöne Grüße aus der Zukunft von Frederik Hetmann und Harald Tondern. Dem in zwei große Kapitel unterteilten Buch liegt zwar ein reizvoller Plot zugrunde: Geschildert werden zwei 18. Geburtstage, im Jahre 1984 der von Thomas, im Jahre 2010 der seines Sohnes Kristian, an denen sich beide jeweils die Frage nach ihrer persönlichen und beruflichen Zukunft stellen.
Gleichzeitig thematisiert das Buch auch zwei unterschiedliche Arten zu leben sowie deren Folgen für die Zukunft der Menschheit. Thomas steht für eine politisch konservative, auf Fortschritt und materiellen Erfolg ausgerichtete Lebensform. Seine Schwester Britta und später sein Sohn Kristian repräsentieren die alternative, idealistische und naturnahe Lebensweise. Leider ist das aber auch die einzige Funktion der Romanfiguren: Sie verkörpern unvereinbare Lebensauffassungen, wobei an keiner Stelle des handlungsarmen Romans ein Zweifel darüber besteht, dass die Sympathie der Autoren der letzteren gilt. Dies lässt sich auch an kleinsten sprachlich-stilistischen Details belegen. Lesbarkeit und Attraktivität des Buches werden gemindert durch die teilweise endlosen weltanschaulichen und belehrenden Dispute der Figuren. Den Lesenden wird letztlich keine Chance gelassen, einen eigenen Standpunkt zu entwickeln.
Weniger theorielastig, dafür umso handlungsreicher sind Dash führ Zoe des englischen Jugendbuchautors Robert Swindells und Gefangen in New York des Amerikaners Ben Bova. Es handelt sich um zwei temporeiche, spannende und doch gesellschaftskritische Jugendromane, die in naher Zukunft vor dem Hintergrund der sich verschärfenden Gegensätze von Arm und Reich spielen. Die Wohlhabenden leben in geordneten, sauberen und gleichzeitig sterilen und scharf bewachten Vorstädten, während die Armen und Rechtlosen in den alten, verfallenden Großstädten der Vergangenheit hausen müssen, in denen Anarchie und brutale Gewalt herrschen.
Dem Genre nach unterscheiden sich beide Titel. Dash führ Zoe verarbeitet das Romeo-und-Julia-Motiv der verbotenen Liebe zweier Menschen, die aus diesen unterschiedlichen Lebenssphären kommen. Die Protagonisten Dash und Zoe erzählen dabei ihre Geschichte abwechselnd selbst, wobei sie sich direkt an die Lesenden wenden und so zu einer Stellungnahme herausfordern. Dass Dash so schreibt, wie er spricht, es „nicht so mit der Rechtschreibung hat“, verstärkt die Wirkung der Unmittelbarkeit des Erzählens – wenngleich der Erzählanlass nicht deutlich wird.
Gefangen in New York erzählt – quasi als Entwicklungsroman – von der Bewährung und Wandlung des jungen Abiturienten Ron, der in einer sauberen „Siedlung“ vor der Stadt lebt. Was für ihn ein kurzer, aufregender Besuch im nur für wenige Sommermonate geöffneten New York werden sollte, entwickelt sich zu einem Alptraum: Er schafft es nicht, rechtzeitig vor Schließung die Stadt zu verlassen und muss nun für ein Jahr in einem Chaos von Gewalt, Hunger und Kälte um sein Überleben kämpfen.
Die vorgestellten negativen Utopien verbindet bei allen Unterschieden in Thema und Qualität, dass die jeweiligen Protagonisten sich der Masse entgegenstellen und dadurch die negativen Seiten der vorgestellten zukünftigen Gesellschaft ebenso transparent machen wie die Notwendigkeit von kritischem Denken, Mut und Fantasie.