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Unschuldig in der Todeszelle

Von Jasmin Friesen, Julia Vogelsberg, Milena Voss und Lea Weber (2021)

Zehn Jahre lang hast du nichts mehr von deinem Bruder gehört – bis heute. Heute hältst du einen Brief in der Hand, der alles verändert. Dein Bruder sitzt in der Todeszelle und möchte dich vor seiner Hinrichtung noch ein letztes Mal sehen. In dieser Situation findet sich der 17-jährige Joe Moon wieder. Er wächst mit zwei älteren Geschwistern in schwierigen Verhältnissen auf. Als Joe gerade ein Jahr alt ist, wird der Vater ermordet. Überfordert mit der Situation als alleinerziehende Witwe, versucht die psychisch labile Mutter ihren Kummer mit Alkohol und Drogen zu bekämpfen und wird abhängig. Joes Bruder Edward fungiert als Vaterersatz – bis er eines Tages verschwindet und Wochen später als zum Tode verurteilter Mörder wieder auftaucht. Die Familie zerbricht und versucht Edward zu vergessen. Zehn Jahre später reist Joe allein nach Texas, wo sein Bruder versucht, seine Unschuld zu beweisen. Doch warum hat Edward den Mord an dem Polizisten gestanden? Ist er schuldig oder war er nur zur falschen Zeit am falschen Ort? Und während die Zeit seines Bruders abläuft, bleibt Joe nur die Frage: Wer ist Edward Moon?

Auf genau diese Frage geht die renommierte irische Autorin Sarah Crossan im Nachwort des Romans ein, denn Edward Moon ist keine vollständig fiktive Figur, sondern wurde stark durch einen Mann namens Edward Earl Johnson inspiriert, der 1987 hingerichtet wurde. Bis heute wurde seine Schuld nicht bewiesen. Crossan wurde mit 15 Jahren durch die sehr empfehlenswerte BBC-Dokumentation Fourteen Days in May auf Johnsons Fall aufmerksam, die einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterließ. Wer ist Edward Moon? verweist auf ein Rechtssystem, das Fehler vertuscht und Zweifeln an der Schuld der Angeklagten nicht nachgeht, womit es in Kauf nimmt, dass Unschuldige hingerichtet werden. Dass dieses System stark von Rassismus geprägt ist, was ein Kernthema der Dokumentation darstellt, wird jedoch kaum thematisiert: Im Gegensatz zu Edward Johnson ist Crossans Charakter weiß, dafür rückt der Polizistenmord stärker in den Fokus.

Der Text erzählt von der Ungerechtigkeit des amerikanischen Rechtssystems und das dadurch verursachte Leid der Familie Moon in direkten, schnörkellosen Worten, die unter die Haut gehen und im Kontrast zu der für Crossan typischen Versform des Textes stehen. Optisch erinnert der Roman zunächst an einen Gedichtband: Einige Kapitel bestehen nur aus wenigen, fesselnden Zeilen. Die etwa 360 Seiten sind daher schnell gelesen. Lässt man sich auf die ungewohnte Schreibweise ein, so machen die abrupten Brüche in den Zeilen die Leseerfahrung noch intensiver, indem sie Zeit geben, das Gelesene wirken zu lassen. Auch die Briefe von Edward und die Textnachrichten, die Joe erhält, sind stilisiert und leiten oft entscheidende Wendepunkte ein. Eine einzige Seite sticht optisch hervor: Ein Gerichtsbeschluss, der über Leben und Tod Edwards entscheidet und als Höhepunkt des Romans gesehen werden kann.

Die allgemein tieftraurige und bedrückende Atmosphäre lässt die Leser*innen auf eine sehr persönliche Weise am Schicksal von Edward und vor allem Joe teilhaben. Neben der spannenden Frage ob Edward überlebt, tragen auch die vereinzelt aufgeführten positiven und hoffnungsvollen Konstanten, wie die humorvolle Art Edwards sowie das unermüdliche Engagement seines Anwalts dazu bei, das Interesse an der Handlung aufrecht zu erhalten.

Bibliographische Angaben:
Crossan, Sarah
Wer ist Edward Moon?
München: Mixtvision Verlag  2019
Seiten: 357
Ab 14 Jahren

Link zur Dokumentation Fourteen Days in May:
https://www.bbc.co.uk/programmes/p05m5xb9

Leseprobe:
Eine Entscheidung
Als ich es Angela schließlich erzählte,
zitterte und zuckte sie,
wollte nichts vom dem Rührei essen, das ich gemacht hatte.

Sie meinte, sie würde wegen des Kredits zur Bank gehen,
ihm einen Anwalt besorgen,
sagte, sie wolle runter nach Wakeling fahren,
um ihm zu helfen.

Aber dann kam Tante Karen nach Hause
von ihrer Nachtschicht im Krankenhaus
und versuchte, meine Schwester zur Vernunft zu bringen.
"Du kannst nichts dagegen ausrichten
und ich werde nicht zulassen, dass du
dein Geld oder dein Leben darauf verschwendest,
für jemanden zu kämpfen,
der nicht einmal Reue zeigt."

"Aber ohne Anwalt hat er keine Chance"; wandte Angela ein.

"Das ist nicht unsere Schuld", fauchte Tante Karen zurück.

"Er ist mein Bruder."

"Aber kein guter."

Ich stand zwischen den beiden.
"Ich fahre nach Wakeling", verkündete ich,
bevor ich auch nur wusste,
was ich sagte,
oder ob ich Ed wirklich sehen wollte oder nicht.

Aber irgendwer musste dorthin.

Angela arbeitet Vollzeit,
Tante Karen hasst ihn
und keiner von uns weiß, wo zum Teufel Mom steckt.

Das war vor zwei Wochen
und seitdem hat sich daran nur eins geändert:
Jetzt hat Ed sogar noch weniger Lebenszeit über.