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Titelbild
Andreas Steinhöfel:
Anders
Illustriert von Peter Schössow
Hamburg: Königskinder (Carlsen) 2014
238 Seiten
16,90 € / E-Book: 11,99 €
Übergangsbuch ab 12 Jahren

Steinhöfel, Andreas und Peter Schössow (Illustration): Anders

Eine andere Geschichte

von Kira Wigger (2015)


„Anders“. So heißt das neue Buch von Andreas Steinhöfel, das seinem Namen gerecht wird: Als Leser ist man irritiert, denn erzählt wird aus verschiedenen Perspektiven – jedoch zunächst nur aus denen von Erwachsenen und nicht aus der des Protagonisten Felix.

Felix Winter ist elf Jahre alt, geht in die Schule, hat überfürsorgliche Eltern und wünscht sich zu seinem zwölften Geburtstag einen Hund. Doch dann wird sein zwölfter Geburtstag zu einem Tag, der sein bisheriges Leben erst einmal zum Stillstand bringt. Felix hat einen Unfall und fällt ins Koma. 263 Tage später – solange wie seine Mutter mit ihm schwanger gewesen ist – wacht er wieder auf. Die Ärzte diagnostizieren eine Amnesie: Felix hat all seine Erinnerungen verloren, auch die an seine eigene Identität vor dem Unfall. Deshalb ändert er seinen Namen in „Anders“, passend zu seiner neuen Situation.

Nach seinem Erwachen ist klar, dass ab jetzt alles anders sein wird. Felix wird zu einer kleinen Berühmtheit im Städtchen, und in den örtlichen Zeitungen wird von einem „Wunder“ gesprochen. Zu Beginn ist es vor allem Gerry, ein Pfleger im Krankenhaus, dem sich Felix anvertraut. Gerry bemerkt schnell, dass der Wunderjunge so manche Eigenarten an sich hat. So weist Felix ihn an einem Tag daraufhin, dass er blau leuchte. Der Pfleger versucht diese Feststellung durch eine geschädigte Netzhaut des Patienten zu erklären. Doch der Junge zeigt im Verlauf der Geschichte, dass er diese Farbauren auch bei anderen Menschen erkennt. Felix ist anders als vor dem Unfall: Er ist sensibel und emotional und möchte den Menschen in seiner Umgebung eigentlich nur Gutes tun. Vor allem erschreckt er seine Mitmenschen dadurch, dass er aus den Farben die Seelenzustände der Menschen ableitet, wodurch er ständig aneckt und missverstanden wird. Ihm wird kein Raum gegeben, seine neue Identität zu finden und zu entfalten. Vielmehr versuchen vor allem seine Mutter und seine Lehrerin, ihn neu zu formen, und zwar so, wie sie ihn gerne hätten.

Felix‘ Vater André ist einer der wenigen Menschen in Felix‘ Umfeld, der ihm ein wenig Freiraum gibt. André sieht die Amnesie seines Sohnes ebenfalls als Chance, die er aber deutlich weniger ichbezogen nutzen möchte als Felix‘ Mutter Melanie. André möchte ein besserer Vater werden als er es bisher für seinen Sohn gewesen ist. Melanie hingegen möchte Felix genauso zurück, wie er vor seinem Unfall gewesen ist: „Melanie konnte Anders nicht verzeihen, Anders geworden zu sein, und der Sohn quittierte das, indem er der Mutter von Tag zu Tag gleichgültiger begegnete.“ Felix spürt, was die Menschen aus seiner Umgebung in ihm sehen und wie diese ihn haben möchten und lässt sie dies auch spüren.

Felix‘ Eltern haben die Hoffnung, dass seine Erinnerungen im Alltag wieder zurückkommen, sodass er schon bald nach seinem Aufwachen wieder in die Schule geht. Dort trifft er auf seine besten Freunde Nisse und Ben. Die drei vereint ein düsteres Geheimnis, von dem Felix zunächst nichts mehr weiß. So wird das Wiedersehen der Freunde von einem merkwürdigen Unbehagen überschattet. Nachts zieht es Felix nach draußen, zu dem Hof seines früheren Nachhilfelehrers Stack. Seine Mutter, die die nächtlichen Ausflüge mit Sorge registriert, beginnt Felix zu kontrollieren, indem sie weiße Kreidestriche um seine Schuhe zeichnet. Doch Felix bemerkt das und stellt seine Schuhe immer wieder an dieselbe Stelle zurück.

Die Beziehung zwischen Stack und Felix ist besonders. Sie scheinen in der gleichen Situation zu sein: Die Leute im Dorf schauen sie mit argwöhnischen Blicken an, denn Stacks Hühnerstall ist vor geraumer Zeit abgebrannt, und man unterstellt ihm, selbst der Brandstifter gewesen zu sein. Stack ist der einzige Erwachsene, der „Anders“ so sein lässt, wie er ist, und ihn zu Wort kommen lässt. Die beiden haben von Beginn an eine vertraute Beziehung – sie tun sich einander gut. „‚Sie sollten das [Foto-]Album jetzt besser zumachen‘, hörte Stack Anders neben sich sagen. ‚Und ihre Frau sollten wir mal auf dem Friedhof besuchen.‘ ‚Wann denn?‘, flüsterte Stack. ‚Jetzt.‘ So begann ihre Freundschaft.“

Charakteristisch für die vielschichtige Geschichte ist deren offensichtliche kunstvolle Konstruiertheit. Darauf deuten bereits die manchmal offenen, mitunter aber auch versteckten Zitate hin, u.a. von Hölderlin, Storm, Mühsam und Bach, die sogar für einen erwachsenen Leser nicht immer auf den ersten Blick zu entdecken sind. Zudem gibt es genaueste Orts- und Naturschilderungen, die eine melancholische Atmosphäre schaffen und so authentisch erscheinen, als hätte Steinhöfel eigene Erinnerungen verschriftlicht. (Überhaupt scheint Autobiographisches in die Geschichte eingeflossen zu sein, die in Steinhöfels Heimat spielt.) So umschreibt der Autor, wie die drei Freunde durch hohes Gras zu einem Baum laufen. Dem Leser wird das Gefühl vermittelt, die Jungen würden in dem Gras verschwinden. Wie diese, so sind auch zahlreiche andere Stellen von intensiver Bildsymbolik. Auch die vielen in den Roman einmontierten Texte – Zeitungsausschnitte, Polizeiberichte, eine Heimatsage – verweisen auf dessen Konstruktcharakter.

„Anders“ durchläuft eine schwere und dunkle Zeit. Nachdem er selbst bemerkt, dass seine Erinnerungen nicht zurückkommen, versucht er sich auf die Menschen in seiner Umgebung neu einzulassen. Er spürt, dass er vor dem Unfall an einem schlimmen Vorfall beteiligt gewesen ist. Anders sieht lauter Farben und hört Töne, was ihm innerlich Unruhe bereitet. Um sich selbst zu beruhigen, macht er waghalsige Balanceakte auf Brückengeländern oder klettert auf den höchsten Baum der Umgebung, um dann aus seiner Krone herunterzuspringen. Der Leser kann Felix’ Angst, sein Misstrauen und seine Unsicherheit nachempfinden und ist somit besorgt, als der Junge sich auf dem Weg zum „Erler Loch“ macht, einem sagenumwobenen Strudel in der Lahn, dessen gefährliche Tücken bereits an vielen Textstellen aufgerufen worden sind. Felix stürzt sich in den Sog des Strudels und bringt sein Leben in höchste Gefahr. Der Strudel steht sinnbildlich für Felix‘ Leben: Er wird immer weiter in die Tiefe gezogen. Was der Strudel in dieser Situation mit ihm macht, widerfährt Felix auch in seinem ‚neuen‘ Leben als „Anders“, denn kaum jemand gibt ihm die Chance, sich selbst zurechtzufinden mit seiner neuen Situation. Das „Erler Loch“ zieht ihn beinahe in den Tod. Doch sein Freund Ben hat ihn aus der Ferne gesehen und schafft es gerade noch rechtzeitig, „Anders“ vor dem Ertrinken zu retten. Zurück an der Oberfläche, ist Felix gereinigt, seine Erinnerungen sind zurück, und den Namen „Anders“ legt er ab.

Er erinnert sich, dass er und seine beiden Freunde damals das Feuer auf Stacks Hof gelegt haben und nie dafür zur Rechenschaft gezogen worden sind. Felix verspürt Reue und möchte sich bei seinem neugewonnenen Freund Stack entschuldigen. Dabei erkennt er die Boshaftigkeit seines Freundes Nisse, der ihn und Ben damals zu der Brandstiftung überredet hat und nun nicht davor zurückschreckt, Stacks neu aufgebauten Hühnerstall erneut anzuzünden, obwohl sich Felix und Stack darin befinden. Felix erkennt aber auch die Aufrichtigkeit seines Freundes Ben, der ihm in dieser Situation zum zweiten Mal das Leben rettet. Felix findet letztlich mit neuen Erkenntnissen zu sich selbst zurück. Er ist nicht wieder der Felix, der er vor dem Unfall gewesen ist, aber auch nicht mehr „Anders“. Schließlich hat er eine für sich erträgliche Weise gefunden, mit der Situation umzugehen.

Durch den ständigen Perspektivwechsel, durch Passagen, in denen verrätselt und ohne Hinweise auf den Erzähler erzählt wird, und durch die Unterbrechung besonders spannender Stellen, die dann aus einer anderen Sicht weiter erzählt werden, wird die Geschichte immer fesselnder. Die Spannung wird bis zur ersehnten Auflösung aufrechterhalten und reißt den Leser regelrecht mit.

Zu Beginn eines jeden Kapitels wird eine räumliche und zeitliche Einordnung gegeben. Der jeweilige Schauplatz ist in Form kleiner Bilder von Peter Schössow illustriert, und die Kapitelüberschriften deuten bereits die bevorstehenden Ereignisse in dem jeweiligen Buchabschnitt an. So ist beispielsweise über dem Kapitel „23. September // Blutbaum“ ein großer ockerfarben-goldener Baum, der nach oben aus dem rechteckigen Bild herausragt, mit zwei fast verschwindend kleinen schwarzen Kindersilhouetten darunter gezeichnet. Farblich hält Schössow sich an die gesamte Aufmachung des Buches: schwarz (mit Übergängen zu Umbra) weiß, gold bzw. ockergelb. Der Roman erscheint unter dem Label „Königskinder“, einem neuen Imprint des Carlsen Verlags. Bereits die äußere Aufmachung des Buches verdeutlicht den Anspruch des Programms: Alle Bücher sind veredelt mit einer goldenen Krone, und die Bücher der ersten Saison sind, wie auch „Anders“, in edlem Schwarz, Weiß und Gold gestaltet. Diese Farben sind bedeutungsvoll in den Roman eingearbeitet.

„Anders“ ist ein Buch für Leser ab zwölf Jahren. Jedoch ist die Geschichte sehr vielschichtig und manchmal schwer zu durchdringen. Die teilweise komplexe, nicht selten metaphorische Sprache ist nicht immer einfach zu verstehen und verlangt ein mehrmaliges Lesen, bei dem man auf die gewollte und kunstvolle Konstruiertheit des Romans aufmerksam wird. „Anders“ ist ohne Frage ein ganz ungewöhnliches Buch, welches seine Schwierigkeiten mit sich bringt. Das macht dieses Buch aber auch für erwachsene Leser attraktiv, wobei diese sich durchaus durch die – den Roman bis weit in seine zweite Hälfte hinein bestimmenden – Perspektiven der Erwachsenen ertappt fühlen könnten. Es wird dem Leser durch den typisch sarkastischen Ton Steinhöfels mehr als deutlich vor Augen gehalten, wie der Protagonist mit den Modellierungsversuchen seiner Mitmenschen zurechtkommen muss. Die Erwachsenen reden permanent auf ihn ein und versuchen, ihm den Weg zu weisen, wobei für seine eigenen Wünsche meist kein Raum bleibt. Als junger Leser kann man sich deshalb gut mit der Hauptfigur identifizieren und Sympathien für ihn entwickeln. Am Ende wird auch Felix zu Wort kommen, sodass die Geschichte als ein Ganzes abgerundet wird.

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