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Chen Jianghong:
Der kleine Fischer Tong
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel
Frankfurt am Main: Moritz 2014
45 Seiten
€ 18
Bilderbuch ab 6 Jahren zum Vorlesen, zum Selberlesen ab 8 Jahren

Jianghong, Chen: Der kleine Fisher Tong

Gemeinsam durch jedes Unwetter

von Tobias Max Wüster (2015)


Am Rande der Großstadt, in einer Bambushütte am Ende eines sandigen Weges, lebt der kleine Fischer Tong. Wie jeden Morgen macht er sich auch heute auf den Weg um zu fischen. Doch das Wetter sieht bedrohlich aus, dunkle Wolken ziehen am Himmel auf und erinnern ihn an die Worte seines Vaters: „Man darf nie aufs Meer hinaus, wenn die Wolken schwarz wie Ruß sind und die Vögel ans Ufer flüchten.“ Da sein Vater nicht mehr da ist, kann der ihn nicht abhalten, und so bleiben die väterlichen Worte nur ein Ratschlag für Tong – ein Ratschlag, der ihm in Erinnerung kommt, den er aber nicht beachtet. Tong stürzt sich in die Wellen und macht sofort einen so schweren Fang wie lange nicht mehr. Seine Hochstimmung über den Fang und die Anstrengung, die er aufbieten muss, um diesen einzuholen, lassen ihn nicht bemerken, wie der Sturm um ihn herum immer tosender wird. Doch was er dann sieht, als er die Angelschnur aus dem Meer zieht, entlockt ihm einen entsetzten Schrei.

Chen Jianghong lässt in seinem neuen Bilderbuch „Der kleine Fischer Tong“ den Leser ganz nahe bei dem Protagonisten sein, lässt ihn seine Angst nachempfinden. Dies gelingt ihm, indem er den Schreckensmoment vergleichsweise überdimensioniert darstellt. Sehen wir Tong zunächst aus der Ferne in seinem Boot mit der Angelschnur und den Wellen kämpfen, zoomen die folgenden Szenen das Geschehen schrittweise heran, bis man letztlich nur noch in Tongs angsterfülltes und bestürztes Gesicht blickt. Chen präsentiert die ganze Geschichte in Panels aufgegliedert. Dadurch gelingt es ihm, Vorgänge einzufangen, die länger als nur einen Moment dauern. Wie auch in früheren Werken hat Chen seine Bilder nach alter chinesischer Tradition auf eine Reispapierrolle getuscht – mit dem Effekt, dass das einzelne Bild nicht für sich steht, sondern als Teil eines über die Seitengrenze hinausreichenden Kontinuums aneinander anschließender Bilder wahrgenommen werden kann. Und so folgt auf Tongs entsetztes Gesicht in close up-Manier die beängstigende Nahaufnahme eines lebenden Skeletts, denn dieses hat Tong an seiner Angelschnur gehabt. Ist zu Tongs Gesicht aus der Ferne immer weiter herangezoomt worden, distanziert sich der Betrachterblick nun schrittweise immer weiter von dem Skelett; man sieht, wie dieses in Tongs Boot steigen möchte. Dagegen wehrt sich der kleine Fischer mit seinem Ruder, doch dem Skelett gelingt es, sich an der Bootskante festzuklammern. Am Strand angekommen, will Tong zu seiner Hütte eilen, verliert jedoch seinen Hut und hört plötzlich Schritte hinter sich: Erst jetzt bemerkt er, dass das Skelett ihm folgt. Vor lauter Schreck fällt Tong in Ohnmacht.

Was jetzt folgt, widerspricht allen Erwartungen. Der Betrachter darf eine Geschichte voller Traurigkeit, aber auch voller Mitleid und Barmherzigkeit miterleben.

Das bisher in sehr dunklen Tönen gestaltete Szenario bekommt einen ersten orangefarbenen Tupfer, als das Skelett eine Kerze in Tongs Hütte anzündet, nachdem es den ohnmächtigen Tong behutsam in die Hütte getragen und dessen Hut zum Trocknen ausgelegt hat. Das Skelett entdeckt einen Spiegel, schaut hinein und wird angesichts seines eigenen Anblicks zutiefst traurig; es möchte einfach nur zurück ins Meer, doch seine Beine tragen es nicht mehr. Das Skelett bricht aus Schmerz über den eigenen Anblick, der unendliche Traurigkeit in ihm auslöst, zusammen.

Der chinesische Künstler-Autor Chen Jianghong lebt seit 1987 in Paris und ist bereits international ausgezeichnet: Er hat u.a. 2005 den deutschen Jugendliteraturpreis für „Han Gan und das Wunderpferd“ bekommen. In seinen Büchern finden sich neben traditionellen chinesischen Spuren zahlreiche westliche, aber auch neuere japanische Einflüsse. Bereits das Bild-Text-Arrangement in Chens neuem Werk ist stark von der Comictradition geprägt, findet doch die Entwicklung der Story allein auf der Bildebene statt, während der Text nur der Bekräftigung dient. Auch das Panel-Layout von „Der kleine Fische Tong“ erinnert an einen Comic, während in der Gestaltung der Gesichtszüge deutliche Parallelen zu Mangazeichnungen zu erkennen sind.

Das Skelett sitzt noch immer in sich versunken am Boden, als Tong mitten in der Nacht aufwacht. Er steht auf und geht langsam auf es zu, sieht, wie das Skelett zittert und wie es ihn ansieht, als wäre es sein Freund. Diese menschlichen Züge ermutigen Tong, lassen ihn Zutrauen gewinnen, und schließlich legt er dem Skelett seine Decke um die Schultern, macht Feuer und verpflegt es barmherzig, gibt ihm all seine Fische, all seine Vorräte. Als das Skelett den letzten Löffel Suppe verspeist hat, legt sich langsam Haut um seine Knochen, aus dem Skelett wird ein Mann aus Fleisch und Blut. Mit dieser Verwandlung nehmen die hellen, warmen Farben in den Bildern zu, die Stimmung wird wärmer, Angst, Traurigkeit und dunkler Schmerz sind verflogen. Aus dem Skelett wird ein väterlicher Vertrauter für Tong, der dem kleinen Fischer erzählt, dass er einmal ein Seefahrer gewesen sei bis zu dem Tag, als sein Schiff bei einem Unwetter untergegangen sei. Der Bericht des Seefahrers deckt sich mit den Warnungen, die Tong von seinem Vater kennt. Der Mann hatte, wie wir erfahren, ebenfalls einen Sohn, ungefähr in Tongs Alter, der aber noch zu jung war, um mit auf Reisen gehen zu können.

Gibt der Verlag ein Lesealter ab sechs Jahren an, kann dies nur für das gemeinsame Betrachten und die gemeinsame Lektüre des Buches eines Erwachsenen mit dem Kind gelten. Die Kinder werden etwa auf einer Rezeptionsebene mit Tong sein, sodass manche Bilder für sie schnell angsteinflößend und missverständlich sein können, wenn sie das Buch alleine betrachten. Zudem scheint die zwar elegante, doch nicht eben leicht lesbare Serifenschrift für Leseanfänger ungeeignet zu sein. Auch kann man allenfalls zwischen den Zeilen erahnen, dass Tongs Vater nicht mehr da und vermutlich verstorben ist.

Es ist am Ende unklar, ob der Mann vielleicht sogar Tongs Vater ist, aber es ist auch unerheblich, denn in ihm hat Tong eine Vaterfigur gefunden. Sie gehen gemeinsam angeln und fangen ein großes Netz voller bunter Fische. Das Zusammensein bereichert nicht nur Tongs Leben, sondern auch das des Mannes, und dieser verspricht dem kleinen Fischer: „Und ich will dir noch viele andere Orte zeigen. Ich werde immer an deiner Seite sein. Ich werde dich beschützen. Gemeinsam werden wir alle Geheimnisse des Meeres erkunden.“

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