Elf Fragen an Julya Rabinowich
Julya Rabinowich (Interview am 20.10.2016 auf der Frankfurter Buchmesse)
1 Warum haben Sie dieses Buch geschrieben?
Ich habe dieses Buch geschrieben, weil es mir wie eine unausweichliche Notwendigkeit vorkam, Jugendliche mit dem Thema Krieg und Überleben zu konfrontieren. Insbesondere deshalb, weil wir uns in Westeuropa jetzt glücklicherweise in einer langen Phase des Friedens befinden und die Zeitzeugen aus schlimmeren Zeiten nun sterben bzw. schon verstorben sind. Das heißt, die Schrecken des Krieges sind hier verblasst… Man sieht zwar Kriege im Fernsehen, man liest davon in der Zeitung, aber das ist etwas, das weit, weit entfernt und nicht „real“ ist und oft unter „Schade, kann man nichts machen – aber geht mich nichts an“ verbucht wird. Dass aber auch hier Menschen gefoltert und ermordet wurden, das kann die heutige Generation der Kinder und Jugendlichen aus Erfahrung natürlich nicht wissen – es ist aber äußert gefährlich, die Geschichte zu vergessen!
2 Wer oder was hat Ihnen beim Schreiben das Leben gerettet?
Ich bin da jetzt mal ganz frech und sage, das Leben gerettet hat mir die gleiche Person, die auch mein Leben gefährdet hat, nämlich ich selbst! (lacht) Also ich würde behaupten, dass der Schreibprozess etwas ist, das immer in einer Erschütterungsphase stattfindet bzw. durch eine Erschütterung initiiert wird – von außen oder von innen. Ich kenne keinen Autor oder keine Autorin, die sagen würde „Ach ok, heute hat’s mich gejuckt und deshalb hab ich jetzt mal begonnen, einen Roman zu schreiben“ (lacht), sondern meistens ist es so, dass ein Abgrund aufgeklafft ist, und die Literatur dann das ist, was man darüberlegt – sei es als heilendes Gewebe, als Brücke oder als Stacheldrahtzaun.
3 Was fiel ganz leicht und was war ganz schwer?
Dieses Buch ist ganz anders entstanden als alle meine anderen Bücher, das heißt der Schreibprozess war ein anderer. Ich kann aber nicht genau sagen, was es war. Dadurch, dass ich versucht habe, ein jüngeres Publikum im Auge zu behalten, wurden natürlich die Sprache und die Ausdrucksweise massiv beeinflusst. Zudem war auch immer ein Filter bezüglich des zumutbaren Schreckens aktiviert, während ich bei Erwachsenen immer vollkommen gnadenlos bin. Ich habe auch darauf geachtet, was ich als Gegengewicht setzen muss, damit es für die Jugendlichen erträglich bleibt. – Ich war also wesentlich liebevoller bei diesem Buch! (lacht)
4 Was würden Sie LehrerInnen zu diesem Buch sagen wollen? – Was sollten sie auf gar keinen Fall damit im Unterricht anstellen?
Es wird sehr schwierig, mit dem (ganzen) Buch zu arbeiten, falls man jemanden in der Klasse sitzen hat, der oder die frisch traumarisiert ist. Ein frisch traumarisierter Mensch, oder jemand, der mental noch nicht weit genug weg von dem ist, was ich beschreibe, könnte nämlich durchaus re-traumatisiert werden. Es ist aber andererseits so gedacht, dass in dem Buch die Botschaft vermittelt werden soll „Du kannst hier weiterkommen!“ und „Du kannst hier Wurzeln fassen!“, und dass geflüchtete Jugendliche diese Botschaft, gespiegelt an einer fiktiven Geschichte, sehen können. Es muss also genau geschaut werden, mit welcher Szene man arbeitet und ob die jeweiligen Schülerinnen oder Schüler psychisch überhaupt stabil genug sind.
5 Stichwort Traumata: Wie können LehrerInnen helfen, den Integrationsprozess der geflüchteten Kinder zu unterstützen?
Also eine Schwierigkeit besteht darin, dass die Kinder nicht kommunizieren können, dass sie traumarisiert sind: niemand von ihnen würde das sagen, sondern vermutlich überspielen, weil in einigen Kulturen das Zeigen von Schwäche als großer Fehler betrachtet wird, deswegen ist seitens der LehrerInnen sehr viel Fingerspitzengefühl notwendig. Ich habe beispielsweise die Erfahrung gemacht, dass die Männer und Jungen, die ich betreut habe, immer gesagt haben, dass es ihnen sehr gut gehe – dabei ging es ihnen furchtbar. Sie hatten es gegenüber dem Therapeuten als unhöflich empfunden, zu sagen, dass es ihnen schlecht geht. Anfangs wurden sie dann nach Hause geschickt, obwohl sie erst einmal vier Stunden gebraucht hätten, um überhaupt formulieren zu können, dass es ihnen schlecht geht. – Ich habe ja über Jahre für Flüchtlinge gedolmetscht und vieles, was in „Dazwischen: Ich“ vorkommt, ist Teil meiner Erfahrung: Die Figur Madina ist eine Verdichtung aus den jugendlichen Flüchtlingen, die mir begegnet sind. Und diese Begegnungen hatten es in sich. Ich habe beispielsweise mit Jugendlichen gearbeitet, die auf die Frage nach ihrem größten Wunsch geantwortet haben, dass sie sich am liebsten in einer dunklen Kammer einsperren wollten, damit sie nichts mehr hören oder sehen müssen. In so einem Fall wäre ein Kampf, wie ihn Madina ficht, nicht möglich, weil gar keine Ressourcen mehr vorhanden sind. Bei Madina ist ja noch nicht alles zerstört worden: Sie hat zwar Traumata, aber solche, die sie überwinden kann, was einerseits auf ihre Resilienzfähigkeit und andererseits auf die Art und das Ausmaß der Traumata zurückzuführen ist.
Als LehrerIn würde ich also auf jeden Fall mit den SchülerInnen sprechen, bevor das geflüchtete Kind oder der Jugendliche in die Klasse kommt. Es wäre auch nicht schlecht, wenn der Schulpsychologe käme und einen kleinen Vortrag hielte und Fragen vorab beantworten würde, da ja jetzt jemand in die Klassengemeinschaft kommt, der ein vollkommen anderes Leben hat als alle anderen. Es ist ganz bestimmt so, dass sich viele auch einfach wunderbar auf einander einlassen können, aber man muss auch ganz sensibel auf Hänseleien wegen der Kleidung oder der Sprache achten, und sofort mit RädelsführerInnen ein ernstes Wörtchen sprechen. Ein ganz besonderes Augenmerk muss man zudem darauf legen, unter welchem Druck insbesondere Mädchen stehen, die natürlich so wie ihre neuen Peers leben wollen – und welche spezifische Unterstützung sie benötigen, damit sie das auch tun können.
6 Warum ist dieses Thema für jugendliche LeserInnen besonders wichtig?
Das Buch ist als Brücke und als Verständigungshilfe gedacht, denn es war mir sehr wichtig, dass die Jugendlichen, die in Deutschland leben, begreifen, wie es ist, in einem Krieg aufzuwachsen: Was es zum Beispiel bedeutet, Freunde zu verlieren, weil sie gestorben sind – dass also (was schlimm genug ist) keine Omas, keine Opas, keine alten Haustiere zu betrauern sind. Das sind nämlich Tote, die sozusagen erwartbar sind. Aber wenn ein junger Mensch auf grausame Art und Weise umkommt, dann ist das eben nicht normal. Und bei uns ist das Gott sei Dank eine große Ausnahme. Mir ist auch wichtig, dass Jugendliche verstehen, wie schwer es ist, sich auf die Integration einzulassen – und was da im Hintergrund an familiären Systemen abläuft, ist auch etwas, das die Erwachsenen begreifen müssen.
7 „Dazwischen: Ich“ ist ihr erster Jugendroman. Warum haben sie sich für diese Adressierung entschieden?
Ich habe bis jetzt Romane geschrieben, die eindeutig an Erwachsene gerichtet waren und es war mir dieses Mal sehr wichtig, Jugendliche ganz aktiv und bewusst anzusprechen. Überraschenderweise war es beim „Spaltkopf“1, der ja auch von Integration, Migration und dem ‚Wechsel von Welten‘ gehandelt hat und der viel autobiographischer als „Dazwischen: Ich“ war, so, dass bei den Lesungen sehr viele junge Leute auf mich zugekommen sind, die ich ursprünglich gar nicht als Publikum erwartet hatte. Dieses Mal wollte ich gerne direkt die erreichen, die zuvor über Umwege als sehr interessierte LeserInnen zu mir gestoßen sind.
8 Welche Figur hat Ihnen primär vorgeschwebt, als Sie die Idee für diesen Roman hatten: Wollten Sie neben der jugendlichen Flüchtlingsperspektive auch betonen, wie eine mögliche Integration der Elterngeneration erfolgen kann?
Die Integration von Madina steht und fällt mit der Integration der Familie – man kann sie nicht trennen. Insofern konnte ich diese beiden Blickwinkel auch nicht einzeln belassen, ich musste sie verschränken und ich musste sie beide zeigen, denn es ist wichtig zu verstehen, was im Hintergrund abläuft. Denn primär lernen wir über Madina die Familie kennen und sehen sie natürlich durch Madinas Filter. Die einzigen Dinge, die wir direkt von den Eltern erfahren, sind die beiden Dialoge, die ich eingebaut habe und die aus einem Theaterstück stammen. Denn dieses Buch war ursprünglich ein Theaterstück für Erwachsene – und die Hauptperson war nicht Madina, sondern der Vater. Das letzte, was bei diesen erwachsenen Flüchtlingen oft bleibt, sind die erlernten Werte. Und deshalb tendieren Erwachsene auf der Flucht dazu, sich noch stärker daran zu klammern, als sie es vorher getan hätten. Denn Madinas Vater beispielsweise ist ja kein radikaler Mensch, er ist auch kein besonders religiöser, sondern ein liberaler Mensch – aber in Bezug auf seine Tochter ändert sich das dann. Er hat sich ja in seinem Herkunftsland offensichtlich gegen das gestellt, was man von ihm erwartet hatte, er war ein Humanist und dennoch vermag er es nicht, seine Tochter in Deutschland loszulassen. Wobei ich sagen muss, dass mir das in meiner Tätigkeit als Dolmetscherin in unterschiedlichen Versionen begegnet ist und ich das zudem so selbst erlebt habe: Mein Vater wurde nach der Auswanderung plötzlich unglaublich streng. Das war vorher nicht so. Aber aus lauter Angst, dass mir etwas passieren könnte und er die Lage „da draußen“ ja überhaupt nicht einschätzen konnte, wurde er streng. Diese Art der Vorsicht ist menschlich und vollkommen normal.
9 Welche Schräubchen hätten für ein „Happy End“ gedreht werden müssen (ohne unrealistisch zu werden)?
Um ein Happy End zu erzeugen, müsste der Krieg aufhören. Und das ist in der Tat unrealistisch. Erstens tendiere ich gerne zu Tragödien – das ist einfach mein Hobby! (lacht) Zweitens kann es in diesem Fall einfach kein Happy End geben, weil die Situation des Vaters das unmöglich macht. Wenn ich den Roman weitererzählen dürfte, dann wäre klar, dass dieser Vater der Familie verloren geht – er kommt nicht wieder. Denn wenn er sich entschiede zu bleiben, dann würden Madinas Großeltern und viele mehr getötet – was für ein Happy End wäre das? Dabei ist für mich ganz wichtig: Das ist eine realistische Situation, denn vor solchen Entscheidungen stehen Menschen im Krieg.
10 Sie sind 1977 im Alter von sieben Jahren aus der Sowjetunion nach Wien geflüchtet. Haben Sie ihre Erlebnisse in „Dazwischen: Ich“ thematisiert oder sind dies Erfahrungen, die sie aus ihrer Arbeit mit Flüchtlingen kennengelernt haben?
Natürlich stammen die meisten Informationen über die Abläufe im Flüchtlingsheim aus meiner Arbeit und meinen Besuchen dort. Manche Situationen sind jedoch gemixt, andere von Menschen geliehen, die auch wie ich vor langer Zeit nach Wien gekommen sind. Also der Mantel beispielsweise ist eine Erzählung einer Kollegin. Es ist ein fast märchenhaftes Sujet, wie mir schien (so wie die Eselshaut, die man tragen muss und die einen verwandelt) und als sie mir davon erzählte, war mir sofort klar, dass das ins Buch muss. Diese Kollegin hatte sich damals sehr geniert und hat später Zeit ihres Lebens sehr darauf geachtet, immer sehr elegant gekleidet zu sein. Das teile ich mir übrigens mit ihr – ich habe Unmengen von Geld für Kleidung ausgegeben. Vollkommen abartig! (lacht) Weil ich damals auch zwei oder drei Jahre lang aus dieser Wühlkiste eingekleidet wurde – nur war ich damals klein und dick und die Kleider waren von „Durchschnittskindern“! Man kann sich vorstellen, wie ich damals ausgesehen habe! Die Kleider waren also nicht nur nicht schön, sondern sie haben auch einfach nicht gepasst, es war also eine ständige Erniedrigung, damit unterwegs zu sein. Der Mantel selbst ist also nicht autobiographisch, das Gefühl dazu allerdings schon!
Eine autobiographische Figur ist jedoch meine Deutschlehrerin, die auch wirklich wie im Buch King hieß. Während meiner Schulzeit habe ich sie gehasst. Aber sie hat mir sehr, sehr geholfen, doch ich war damals zu dumm, es zu verstehen, so dass ich mir im Nachhinein gedacht habe, dass sie sich wenigstens ein Porträt von mir verdient hat. Ich war nie bei ihr zu Hause und auch Kekse habe ich keine erhalten (lacht). Doch was ich von ihr verwendet habe, das war ihre Liebe zu England und dass sie mit einem Engländer verheiratet war, der früh starb. Typischerweise wäre sie in einem Bildungsroman als Heldin anzutreffen! Und zwar in einem deutschen, nicht in einem russischen! (lacht) Sie hat ausgesehen wie aus dem 18. Jahrhundert. So spröde, so idealistisch, so gefasst, sogar ein wenig zwanghaft. Ich habe ihr viel zu verdanken.
11 In der besten aller Welten: Wie würden Sie die Begriffe „Integration“, „Adoleszenz“, „Peers“ und „Schule“ in ein oder zwei Sätzen verbinden?
Also ich würde sagen, dass jede Integration mit Freundschaft gelingen kann. Mit echter, sich wirklich aufeinander einstimmender Freundschaft. Je freundschaftlicher der Umgang ist, je mehr man erkennt, was einem die anderen geben können, und wie man sich selbst konstruktiv einbringen kann, desto mehr kann Integration gelingen. Dabei benötigen die geflüchteten Menschen auch eine Möglichkeit, etwas zurückgeben zu können – Beziehungen dürfen nicht einseitig werden: Das Modell „Du kriegst jetzt was, und dann kriegst Du nochmal was – aber jetzt verhalte dich auch so wie wir.“ ist kein besonders sinnvolles.
1 Julya Rabinowich (2011): Spaltkopf. Wien: Deuticke Verlag.