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Elf Fragen an Alex Gino

Alex Gino „George“ (Interview vom 21.9.16 im Literaturhaus in Frankfurt)

1 Warum haben Sie dieses Buch geschrieben?

Ich habe dieses Buch geschrieben, weil es noch nicht existiert hat. Als ich ein Kind war, gab es keine Bücher mit Trans-Hauptfiguren, und als ich ein/e junge/r Erwachsene/r war und in die Buchhandlung ging, fing es gerade an, dass in den Buchläden die ersten Bilderbücher und Junge-Erwachsenen-Literatur  mit gay-Charakteren erschienen.

Aber auch zu dem Zeitpunkt gab es immer noch nichts zu transgender-Charakteren, und das war etwas, das insbesondere bei der Literatur für die Mittelstufe sehr gefehlt hat. In dieser Zeit fragen die zehn- bis zwölfjährigen LeserInnen nach dem Bezug zu „sich selbst vs. die anderen“, und da gab es nichts Entsprechendes. Und ich habe dieses Buch auch deshalb geschrieben, weil es genau das Buch gewesen wäre, das ich gerne gelesen hätte.

2 Wer oder was hat Ihnen beim Schreiben das Leben gerettet?

Sehr viel Eiscreme! (lacht) Also, ich begann mit dem Schreiben 2003 … Somit kann man sagen, dass das Buch so alt wie die Hauptfigur ist. Ich schrieb es in ungefähr zwei Jahren, dann habe ich es einigen Leuten gezeigt, habe Feedback gesammelt und das umgesetzt, dann habe ich es anderen Leuten gezeigt und mehr Feedback bekommen, dann habe ich es wieder den ersten Leuten gezeigt … Was mich also wirklich aufrechtgehalten hat, war, dass die Leute es gelesen und gemocht haben. Ich hätte damals auch niemals gedacht, dass es im Mainstream publiziert werden würde – bis auf die letzten paar Jahre…  Ich bin mit einer Trans-Frau, die Verlegerin ist, befreundet, und sie hat die Geschichte gelesen und hat einige Jahre mit mir an dem Roman zusammengearbeitet und mir geholfen, dass Buch auf ein Level zu bringen, so dass ich es Agenten zuschicken konnte. Das war das Wertvolle daran, dass so viele unterschiedliche Personen auf das Werk geschaut haben.

3 Was würden Sie LehrerInnen zu diesem Buch sagen wollen? – Was sollten sie auf gar keinen Fall damit im Unterricht anstellen?

(Lacht) Oh, ich liebe diese Frage! LehrerInnen sollten dieses Buch keinesfalls so behandeln, als wäre es irgendein schreckliches, unangenehmes Thema. Eigentlich brauchen die Kinder gar nicht viel Vorbereitung oder Anleitung. Es sind eher die Erwachsenen, die nervös werden und sich fragen „Oh, was werden die Kinder wohl sagen“. Meistens wollen Kinder einfach nur etwas über die Welt erfahren, und wenn man ihnen schon früh zeigt, dass es Trans-Menschen gibt, dann nehmen sie es einfach auf. LehrerInnen sollten das Thema also auch nicht so behandeln, als würden sie viel mehr als ihre SchülerInnen wissen.

4 Warum ist dieses Thema für jugendliche LeserInnen besonders wichtig?

Oh, da könnte ich viel sagen! Es ist sehr wichtig für Trans-Kinder, weil sie in diesem Alter herausfinden, wer sie sind, aber es ist genauso wichtig für alle anderen Kinder und deren Verständnis davon, wen es alles in der Welt gibt. Denn meine ersten 100 Erlebnisse mit Transgender in den Medien waren ausschließlich Witze, wirklich schlimme Sachen. Und wenn wir also von früh auf positiven Einfluss haben könnten mit guten Beispielen, dann würden Kinder mit einem besseren Verständnis von der Welt aufwachsen können.

5 Sind Sie George?

Ich bin nicht Melissa! Ich nenne sie Melissa, weil das Buch zwar George heißt, aber die Figur Melissa. Wir sind beide trans, aber wir sind auf unterschiedliche Art und Weise trans: sie ist binär (binary), sie ist ein Mädchen und das funktioniert sehr gut für sie, ich hingegen bin genderqueer, (also weder männlich noch weiblich) und das funktioniert sehr gut für mich. Sie wächst gerade auf, also hat sie Zugriff auf Informationen, die ich in dem Alter nie hatte. Sie kann zum Beispiel das Wort „transgender“ im Internet finden, ich fand das Wort erst, als ich 19 Jahre alt war. Ich wusste bis dahin also nur, dass ich anders war, in dem Verständnis von dem, wer ich war. Ich fühle mich zwar sehr mit ihr als Person verbunden, aber unsere Trans-Geschichten sind verschieden. Es gibt aber eine Szene, die ich genauso erlebt habe, und zwar war das der Moment, als sie in der Klasse anfangen musste zu weinen, weil Charlotte starb. Kein anderes Kind hat damals im Unterricht geweint, nur ich – also kann man sagen, dass ich in dieser Szene bin. Aber der Roman ist keine Autobiographie.

6 In dem Roman benutzen sie von Anfang an das Pronomen „sie1“ , aber den Rufnamen George; warum haben Sie sich dafür entschieden? 

An der Stelle möchte ich noch einmal betonen, dass ich die LeserIn nicht in die Irre führe, wenn ich von Anfang an „sie“ schreibe und nicht erst, nachdem Melissa beginnt, sich zu outen. Am Anfang gab es viele Versionen der Geschichte, und damit kam die Frage auf, ab wann ich das weibliche Pronomen benutzen würde. Und meine Verlegerin meinte dann, warum sollte es ein Geheimnis sein? Und deshalb haben wir uns entschlossen, direkt von Anfang an „sie“ zu schreiben, weil es sich ja um ein Mädchen handelt.

7 In dem Roman versagen zunächst die Figuren, von denen man eigentlich Zuspruch und Verständnis für George erwartet hätte, dafür reagieren andere überraschend positiv und unterstützend. Haben Sie das unbewusst so angelegt und/oder haben Sie bewusst mit den LeserInnen-Erwartungen gespielt?

Vielleicht von beidem ein bisschen. Ich habe es vielleicht absichtlich gemacht, aber deshalb, weil es genauso passiert in der echten Welt. Es gibt immer eine gewisse Erwartungshaltung gegenüber der Frage „Wer wird für transgender Menschen Verständnis haben?“ Und das sind dann eben nicht immer die Menschen, von denen man es zunächst angenommen hätte. Und insbesondere Eltern haben es besonders schwer, weil sie dich „gemacht“ haben, und deshalb erwarten sie auch von dir, auf eine bestimmte Art und Weise zu sein. Geschwister hingegen zeigen eher Verständnis, weil sie sich einfach denken „Ah, okay. Verstehe ich.“ Deshalb gefällt es mir besonders gut, dass Melissas Bruder so eine stereotype Figur ist und es völlig versteht, während die Mutter, die zunächst ganz liberal wirkt und ja eine sehr starke Frau ist, völlig verständnislos reagiert. Das ist eine Erfahrung, die transgender Menschen immer wieder in der Realität machen müssen. 

8 Normalerweise hätte man erwartet, dass eine Vaterfigur die (zunächst ablehnende) Rolle übernimmt und die Mutter die verständnisvolle Fürsprecherin ist. – Aber der Vater tritt diesbezüglich nicht weiter in Erscheinung, und die Mutter hat diese Rolle also übernommen, warum?

Ja, es war mir wichtig, dass es zwar hoffnungsvoll endet, aber nicht komplett positiv. Viele lesen das Buch und sagen danach „Yeah, die Mutter ist an Bord!“, aber die Mutter ist nicht an Bord! Sie muss viel daran arbeiten, aber sie liebt eben ihr Kind. Und so war es für mich am realistischsten, denn man kann von Eltern nicht erwarten, perfekt zu sein. Wenn man jetzt ein Buch läse, in dem alles perfekt wäre, würde man sagen: „Oh, so kann ich das aber vielleicht nicht machen!“ Aber so, wie es in George beschrieben ist, könnte es ganz realistisch auch passieren. Man könnte als Mutter beispielsweise die Tasche mit den Mädchenzeitschriften zurückgeben – aber das ist nur einer von vielen Schritten, die die Mutter unternehmen muss, um ihr Kind zu unterstützen.

9 2015 war ein Jahr des Widerspruchs für Trans-Menschen. Einerseits gab es eine große mediale Präsenz (zum Beispiel auch wegen Caitlyn Jenner etc.) und die Politik wurde beeinflusst (Healthcare-Reform, Congress's Transgender Equality Task Force). Auf der anderen Seite wurde seit 2014  fast eine Verdopplung von Gewaltverbrechen an Trans-Menschen in den USA verzeichnet. Können Sie etwas zu dem Verhältnis dieser beiden Faktoren sagen und wie diese vielleicht in Zusammenhang stehen? (Das war eine Frage, die ganz ähnlich Judith Butler gestellt wurde.)

(Lacht) Oh, jetzt wird es aber keine Judith-Butler-Antwort geben! Ich habe einen Preis für LGTB-Literatur bekommen und bekam diesen Preis in Orlando verliehen, zwei Wochen nach der Schießerei. Das erwähne ich deshalb, weil das genau der Widerspruch ist: Zum einen kann man sagen „Woooow, wir kommen jetzt an ganz neue Orte“, zum Beispiel in eine Preisverleihung – aber andererseits sind es auch schlimme Orte wie bei dieser Schießerei. In meiner Dankesrede habe ich deshalb davon gesprochen, dass Fortschritt auch Gegenreaktionen mit sich bringt: In dem Moment, wenn schwule/lesbische Menschen heiraten und Kinder kriegen dürfen, ins Militär aufgenommen werden – ja, halt einfach ganz normale Leute sein dürfen – dann fürchten Leute mit Macht, eben diese Macht zu verlieren. Je mehr Fortschritte wir also erzielen und je sichtbarer wir werden, desto mehr Gewalt gibt es. Und was es besonders schlimm macht, ist, dass diese Gewalt sich besonders auswirkt auf die Körper von farbigen Transfrauen. Und einerseits bin ich jetzt hier in Deutschland und habe eine erstaunliche Zeit, und dass dies überhaupt möglich ist, ist die eine Seite der Medaille, auf deren anderer Seite die Leute in ihrem täglichen Leben bedroht werden. Dennoch sehe ich, dass uns nichts anderes übrig bleibt, als die Entwicklungen voranzutreiben, so dass die Widerstände irgendwann zurückgehen.

10 Ihr Roman ist ein Plädoyer für ein tolerantes Miteinander und die Überwindung binärer Strukturen. Was würden Sie Lesenden antworten, die in der transgender-Thematik eine Verfestigung der binären Strukturen (unabhängig von Sexualität) lesen?

Es ist meine Lieblingskritik an dem Buch, dass Melissa ein „girlie girl“ sei. Ich habe da ziemlich viel drüber nachgedacht, weil jede Trans-Story anders verläuft. Es gibt sehr viele Transmädchen, die keine „girlie girls“ sind und viele Transjungen sind auch nicht „macho macho“. Melissa ist jedoch ein „girlie girl“ und sie ist trans. Und ich glaube, dass sie deshalb schon so früh weiß, wer sie wirklich ist. Denn wenn sie weniger feminin wäre, würde sie vermutlich unter dem Radar durchfliegen, sie würde es weniger klar verstehen können. Und dann gibt es da noch einen Aspekt, nämlich den, dass ich  gerne der Typus von FeministIn wäre, der nicht auf Femininität herabsieht. Es gibt viele Feministinnen die sagen, ich bin stark und ich bin dies und ich bin das und das können und sollen sie, aber man sollte eben auch trotzdem sagen dürfen „Ich liebe rosa!“. Diese Attribute werden sonst gering geschätzt. Deshalb muss man sagen, dass es total ok ist, ein girlie girl zu sein. Ich verstehe natürlich die Sorge der möglichen Genderklischees, aber was soll ich sagen – das ist halt, wie Melissa ist, es ist nicht, wie ich bin!

11 In der besten aller Welten: Wie würden Sie die Begriffe „Identität“, „Adoleszenz“, „Klassenzimmer“ und „Gender“ in einem (oder zwei) Sätzen verbinden?

Hmmmm, (lacht), also, das wurde ich noch nie gefragt, es gibt immer etwas Neues, über das ich nachdenken kann… ich mag das! Also in meiner perfekten Welt, wäre die Welt ein Klassenzimmer, und zu dem Zeitpunkt, an dem die Menschen die Adoleszenz erreichen, hätten sie schon Erfahrungen mit einer Bandbreite verschiedener Gender gemacht und sich in Bezug auf ihre Identität bereits Gedanken darüber gemacht, welches Gender sie haben könnten und wie dieses genau aussähe.

 

 

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1 In der deutschen Ausgabe wird einmal das Pronomen „er“ verwendet; hierbei handelt es sich um einen Druckfehler, in der Originalausgabe steht dort „she“. Anm. NMS