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Appelfeld, Aharon:
Blumen der Finsternis
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
Berlin: rowohlt Berlin 2008
320 Seiten
€ 19,90
Jugendbuch ab 14 Jahren

Appelfeld, Aharon: Blumen der Finsternis

Education sentimentale

von Wiebke Groenewold (2009)

Welches ist wohl das beste Versteck für einen elfjährigen jüdischen Jungen, der sich vor den Nazis verbergen soll? 

Der Zweite Weltkrieg hat seinen Höhepunkt erreicht. In einem von Deutschen besetzten Ort in Osteuropa leben der elfjährige Hugo und seine Mutter Julia in einem Judenghetto. Dort scheint es viele Geheimnisse zu geben, über die niemand sprechen möchte. Man schweigt über die Arbeitslager, in welche die jüdischen Mitbewohner verschleppt werden. Man schweigt über die Deportationen, denen die Alten und die Kinder aus den Heimen zum Opfer fallen. Vor allem schweigt die Mutter jedoch über Hugos Vater, der vor einem Monat abtransportiert wurde und von dem die Familie kein Lebenszeichen mehr erhalten hat. Jede Nacht muss Hugo auf die Schreie der Menschen horchen, die von den Soldaten abgeholt werden. Wer wird der Nächste sein?

Verzweifelt versucht Hugos Mutter, ihren Sohn bei einer Familie in den Bergdörfern unterzubringen, um so für seine Sicherheit zu sorgen. Als dieser Plan scheitert, bleibt ihr nur noch ein Ausweg. Sie bringt ihn zu ihrer Jugendfreundin Mariana. Diese „ist eine gute Frau, aber das Schicksal macht es ihr nicht leicht“. Noch versteht Hugo nicht, wohin es ihn verschlagen hat, doch die Worte der Mutter begleiten ihn weiter, obwohl sie ihn hat zurücklassen müssen: „Du musst Dich jetzt benehmen wie ein Großer“!

Die Tragweite dieser Aufforderung wird dem Jungen erst allmählich und sehr viel später bewusst werden, denn sein Versteck ist ein Freudenhaus. Hugo ist gezwungen, seine Zeit fortan in einer Abstellkammer neben Marianas Zimmer zwischen Unterröcken, Seidenstrümpfen und Schuhen fernab vom Tageslicht und einem wärmenden Ofen zu verbringen. Sprach- und bewegungslos muss er die Zeiten aussitzen, in denen die Prostituierte deutsche Offiziere in ihrem Zimmer empfängt. Dabei lauscht der Junge den seltsamen Geräuschen und Gesprächen, die er nicht versteht. Die einzig angenehmen Momente sind die, in denen Mariana ihn in ihr rosarotes Zimmer lässt, er belegte Brote essen darf oder sie zusammen in dem breiten Bett schlafen …

Aharon Appelfeld wählt mit Hugo und Mariana zwei äußerst gegensätzliche Protagonisten für seinen Roman. Der Junge kommt aus  einem gebildeten und liebevollen Elternhaus, in dem er gelernt hat, andere Menschen zu achten. Mariana hingegen wurde von ihrem Vater geschlagen und kam bereits mit vierzehn Jahren auf die schiefe Bahn. Die Hure flüchtet sich in eine naiv-optimistische Welt, in der der Cognac sie wenigstens zeitweise ihr Leid vergessen lässt. Zwischen den beiden Leidensgenossen entwickelt sich eine bizarre Symbiose: Mariana bleibt nur für Hugo an ihrem ‚Arbeitsplatz’ und meint, in dem Jungen das einzig ehrlich Männliche wiederzuerkennen. Hugo allerdings verliebt sich in seine Beschützerin, entfernt sich dadurch emotional immer mehr von seinen Eltern und hält sich nur noch durch den nächsten ‚schönen Moment’ mit seiner Angebeteten über Wasser. Das Überleben des Anderen wird ihrer beider Lebenssinn. 

In ihrer Naivität begeben sich beide in Rollen, denen sie eigentlich gar nicht gewachsen sind. Mariana spielt die Mutter, während Hugo sich als den Geliebten einer Frau sieht, die dem Alter nach seine Mutter sein könnte. Dabei kann er die Geschehnisse noch nicht verstehen. Er fühlt sich unwirklich, fast wie die Figur eines Märchens, und flüchtet sich immer wieder in Traumwelten. Diese Sichtweise Hugos spiegelt sich auch in der Erzählhaltung des Buches: Sehr ruhig und lakonisch werden die Geschehnisse dargestellt. Das Trauma der Shoah wird nicht eigentlich thematisiert. Lediglich die unmittelbaren Schrecken der Verfolgung finden sich aus der Perspektive Hugos geschildert. 

Appelfeld erschafft mit seinem von Mirjam Pressler gewohnt beeindruckend übersetzten Werk ein Stück Erinnerungsliteratur, in der sich zum Teil autobiographische Erlebnisse widerspiegeln. Er präsentiert die Doppelmoral und Falschheit der Gesellschaft, indem er Personen zweier Randgruppen jener Schreckenszeit kontrastiert und deren Geschichten erzählt: die der Hure und die des Judenjungen.

Appelfeld, 1932 in Czernowitz geboren, hat bereits früh gegen das Vergessen angeschrieben und dabei auch immer wieder aus seiner eigenen Geschichte erzählt. So setzt der Autor in seinem Werk den Schwerpunkt weniger auf die historische, sondern vielmehr auf die emotionale Aufarbeitung der Geschehnisse. Er gewährt einen Einblick  in die Gefühlswelten der damaligen Menschen, Einblicke, die einem weder eine Chronik noch eine Dokumentation offenbaren könnten.

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